Militarismus
und stille Repression
Warum Sparpolitik kein Zufall ist, wie der Kapitalismus von Krieg profitiert und wieso Hoffnung trotzdem aus dem Globalen Süden kommt
Interview von Patrick Kaczmarczyk
mit Clara Mattei
Clara Mattei ist eigentlich Italienerin, lebt inzwischen aber in Tulsa, Oklahoma, wo sie ein neues Zentrum für „unorthodoxe“ wirtschaftliche Forschung gegründet hat. Es trägt den schönen Namen „Center for Heterodox Economics“, abgekürzt CHE. Von dort aus treibt Mattei Debatten in der globalen Linken an.
Das Interview beginnt mit ihrem Buch Die Ordnung des Kapitals: Wie Ökonomen die Austerität erfanden und dem Faschismus den Weg bereiteten. Schnell geht es aber um drängendere Fragen: Warum ist die Logik der Austerität nach wie vor so wirksam? Welche Verbindung besteht zwischen Kapitalismus und Militarismus? Und: Warum ist Gaza heute nicht nur ein Ort des menschlichen Leids, sondern auch ein Schauplatz konkurrierender wirtschaftlicher Weltanschauungen?
Frau Mattei, Ihr Buch „Die Ordnung des Kapitals“ wurde breit rezipiert und ist im März dieses Jahres auch auf Deutsch erschienen. Hatten Sie beim Start des Projekts geahnt, dass es gerade jetzt so große Resonanz finden würde?
Clara Mattei: Ehrlich gesagt: nein. Ich habe das Projekt im Rahmen meiner Promotion begonnen und dachte zunächst, dass es nur ein akademisches Publikum erreichen würde. Aber die Reaktionen gingen weit darüber hinaus. Es gibt ein echtes Bedürfnis nach grundlegender Kritik an unserem ökonomischen System. Und das liegt auch daran, dass die etablierten Narrative – selbst von progressiver Seite – keine überzeugenden Erklärungen mehr liefern. Die Menschen spüren, dass etwas grundlegend falsch läuft.
Der Titel Ihres Buches legt eine große These nahe: Wie definieren Sie Austerität neu?
Kurz gesagt: Austerität hat nichts mit ausgeglichenen Haushalten oder Sparsamkeit zu tun. Es ist ein politisches Instrument zur Aufrechterhaltung kapitalistischer Machtverhältnisse. Es vertieft die Abhängigkeit der Menschen vom Markt, indem es soziale Dienste abbaut und kollektive Macht untergräbt. Der Staat zieht sich dabei nicht zurück – er greift aktiv ein, allerdings ausschließlich zugunsten des Kapitals, nicht der Arbeit. Das ist der springende Punkt: Es geht darum, jede ernsthafte Herausforderung des Systems im Keim zu ersticken.
Sie leben inzwischen in den USA, waren aber kürzlich in Berlin. Was führte Sie dorthin?
Im März war ich zur Veröffentlichung der deutschen Ausgabe meines Buches in Berlin. Davor war ich bereits mehrfach als Rednerin bei Veranstaltungen verschiedener Organisationen eingeladen. Während meines Aufenthalts habe ich deutlich gespürt, dass sich das gesellschaftliche Klima in Deutschland stark verändert hat – vor allem, wenn es um Vorträge geht, in denen ich die politische Ökonomie des Geschehens in Gaza thematisiere.
Inwiefern hat sich da die Stimmung geändert?
Der Druck, zu diesem Thema zu schweigen, ist groß – und das nicht nur von konservativer Seite, sondern auch innerhalb der Linken. Dabei habe ich nichts anderes getan, als historische und ökonomische Zusammenhänge aufzuzeigen. Allein das scheint bereits als Provokation zu gelten. Wenn selbst auf linken Veranstaltungen kein Raum mehr für die Analyse struktureller Gewalt bleibt, ist das ein alarmierendes Signal.
Was genau haben Sie gesagt?
Ich habe Verbindungen aufgezeigt. Wenn man die Logik der Austerität weiterdenkt, landet man bei einem Staat, der Sozialleistungen im Inland kürzt, während er gleichzeitig die Militarisierung im Ausland massiv finanziert. Was in Gaza geschieht, ist die brutale Manifestation eines Systems, das Zerstörung in Profit verwandelt. Die Aktienkurse von RTX oder Lockheed Martin sind gestiegen. Auch Konzerne wie Microsoft oder Google profitieren über ihre Technologien. Die Gewalt ist profitabel. Austerität bedeutet eben nicht weniger Staat, sondern Staat im Dienst des Kapitals – gegen die Menschen.
In der Öffentlichkeit wird diese Verbindung zwischen Militarismus und Austerität kaum hergestellt. Warum ist das so?
Weil sie unbequem ist. Man trennt Sparpolitik und Militarismus, als wären es unterschiedliche Bereiche, dabei sind sie zwei Seiten derselben Medaille. Soziale Ausgaben gelten als gefährlich, weil sie Menschen ermutigen könnten, sich politisch einzumischen. Militärausgaben hingegen stützen die bestehende Ordnung. Inzwischen kürzen viele Staaten bei Bildung, Gesundheit und Wohnen, während das Militär grenzenlos finanziert wird. Das ist kein Zufall. Denn das ist der beste Weg, die Wirtschaft zu stimulieren, ohne die Ordnung des Kapitals zu gefährden. Die Medien verstärken diese Trennung oft, obwohl es eine systematische Einheit ist: Kontrolle und Repression.
Auch Deutschland folgt diesem Muster: Mehr Rüstung, weniger Sozialausgaben. Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition beschreitet genau diesen Weg. Ist das versteckte Austerität?
Es ist nicht mal mehr versteckt. Es ist klassische Austerität. Die angeblich neutralen Regeln über Haushaltsdisziplin werden selektiv aufgehoben. Wenn es ums Militär geht, scheint alles möglich. Aber bei sozialen Investitionen heißt es: „Es ist kein Geld da“. Das zeigt, wo die Prioritäten liegen. Und wenn dieser Widerspruch offensichtlich wird, beginnen Menschen Fragen zu stellen. Genau da entsteht Raum für kritisches Denken – den wir nutzen müssen.
In Ihrem Buch beschreiben Sie Austerität auch als Reaktion auf soziale Mobilisierung. Wie unterscheidet sich das heute?
Heute ist Austerität so effektiv wie nie. Sie hat kollektive Strukturen zerschlagen. In den 1920er- oder 1970er-Jahren waren Arbeiterbewegungen eine reale Bedrohung. Heute herrscht Vereinzelung. Die ständige Unsicherheit zwingt Menschen, nur ans Überleben zu denken. Genau das ist das Ziel: Die Ressourcen für politische Organisation zu entziehen. Und das gilt global. Selbst Widerstand wird oft entpolitisiert und dadurch zu einem reinen Spektakel.
Gleichzeitig gewinnen rechte Parteien an Zulauf, obwohl sie noch mehr Austerität versprechen. In Deutschland ist das die AfD, in den USA Donald Trump. Ist das ein Widerspruch, dass die Mehrheit Menschen wählt, die nicht ihre Interessen vertreten?
Nur scheinbar. Wenn Menschen entmachtet sind, greifen sie nach schnellen Antworten. Die Rechte bietet Identität, Schuldzuweisungen, Sicherheit – auch wenn sie toxisch sind. Die Linke hingegen hat oft keine realistischen Alternativen. Historisch war das auch so: In Italien bereitete Austerität den Boden für Mussolini, in Deutschland für Hitler. Beide Systeme haben mit Repression und wirtschaftlichem Elitenschutz funktioniert. Das wiederholt sich heute.
Sie äußern sich kritisch über die akademische Welt. Warum?
Weil sie sich zu einem Elfenbeinturm entwickelt hat. Vor allem in der kritischen Ökonomie kreisen viele nur um sich selbst. Der Kontakt zu echten gesellschaftlichen Kämpfen fehlt. An der New School, wo ich gelehrt habe, habe ich versucht, Theorie mit realen Problemen zu verbinden. Viele Studierende waren dankbar dafür, aber die Institution war daran nicht interessiert. Deshalb habe ich das CHE in Tulsa gegründet: um außerhalb der akademischen Blase etwas aufzubauen. Es ist hart, aber notwendig. Ideen müssen im Leben stehen, nicht nur in Journals.
Tulsa klingt nicht gerade wie ein Zentrum des Widerstands. Was passiert dort?
Es passiert mehr, als man denkt. Die Leute müssen mit widrigen materiellen Umständen zurechtkommen. Unsere Veranstaltungen ziehen viele Menschen an – nicht Akademiker, sondern ganz normale Leute, die genug haben. Es gibt bereits Formen von Solidarökonomien: Tauschnetzwerke, gegenseitige Hilfe, lokale Initiativen. Wir versuchen, diese zu vernetzen und zu stärken und eine systemische Perspektive auf die Probleme zu vermitteln. Da gibt es so viel Potenzial außerhalb der elitären Blasen. Die Menschen sind nicht desinteressiert. Sie sind erschöpft, aber aufmerksam. Ihre Erfahrungen können uns Akademikerinnen auch in der Theoriebildung helfen. Und die Menschen teilen, was sie haben. Das ist ansteckend.
Sie sagen, Hoffnung könnte aus dem Globalen Süden kommen. Wie kommen Sie darauf?
Ich war kürzlich in Brasilien. Dort wird mein Buch ernst genommen. Die Bewegung der Landlosen heißt dort Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, kurz MST. Sie zeigt, wie Alternativen aussehen können: Genossenschaften, ökologische Landwirtschaft, nicht-marktwirtschaftliche Verteilung. Und das alles mit Druck auf den Staat. Diese Bewegungen entstehen aus realen Bedürfnissen. Wir im Globalen Norden romantisieren sie oft oder ignorieren sie. Aber sie sind eine Inspirationsquelle. Und dort ist die Not größer … aber eben auch der Mut.
Wird die europäische Linke irgendwann bereit sein, diesen Menschen zuzuhören?
Einige ja. Aber viele stecken in Parteistrukturen oder Karrierelogiken fest. Ein Beispiel sind die Arbeiter beim Autozulieferer GKN in Italien. Sie wollten ihre Fabrik in eine Genossenschaft für Lastenräder umwandeln – ökologisch, demokratisch, mutig. Die etablierten linken Parteien und Gewerkschaften haben sie aber einfach ignoriert.
Warum?
Weil echte Alternativen unbequem und gefährlich sind für das System, von dem die linke Elite profitiert. Aber genau diese Initiativen zeigen den Weg. Wenn wir sie nicht sichtbar machen, wer dann?
Bleiben Sie optimistisch?
Ich versuche es zumindest. Hoffnung ist kein naiver Glaube, sondern eine Entscheidung. Es geht darum, weiterzumachen, selbst wenn alles dagegen spricht. Und gerade jetzt sehe ich Anzeichen für Wandel. Die Menschen stellen tiefere Fragen, sie vernetzen sich, sie begreifen Zusammenhänge. Das ist der Anfang. Die Geschichte zeigt: Systeme, die auf Repression beruhen, geraten irgendwann ins Wanken. Die Frage ist: Wer ist bereit, wenn es passiert?@
Clara Mattei (geboren 1988) ist eine italienische Ökonomin und Hochschullehrerin, die in den USA lebt. Sie ist die Großnichte zweier bedeutender kommunistischen Widerstandskämpfer: Gianfranco und Teresa „Chicchi“ Mattei. Seit Februar 2025 leitet Mattei das Center for Heterodox Economics an der University of Tulsa. Am 26. März erschien Die Ordnung des Kapitals auf Deutsch (Brumaire, 586 S., 22 Euro).
aus: Freitag am 1. Mai 2025