Nr. 312    Erscheinungtermin: 07.06.2025
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72 Seiten
Juni 2025
Preis: 5,00 EUR



Inhaltsverzeichnis
aaa-uftakt

Indien-Pakistan:
170 atomare Sprengköpfe pro Land

Ein gefährlicher Konflikt eskaliert und findet zu wenig Beachtung

von Christoph von Lieven

Indien und Pakistan stehen am Rande eines Atomkriegs. Jahrzehntealte Friedensabkommen wurden aufgekündigt. Droht nun der nukleare Schlagabtausch?

Während die Verhandlungen über den Ukraine-Krieg in die entscheidende Phase gehen, in Gaza, dem Libanon und Jemen Tausende sterben, und die Entwicklung auch in deutschen Medien berichtet wird, droht zwischen Indien und Pakistan der Konflikt so zu eskalieren, dass auch eine nukleare Option nicht ausgeschlossen ist. Ein Atomkrieg zwischen den beiden Atommächten hätte globale Folgen: Millionen Tote, nuklearer Winter, Hungersnöte und Migrationskrisen.

Indien und Pakistan treiben ihre jahrzehntelange Rivalität in eine neue Dimension – mit nuklearer Eskalationsgefahr. Ein Krieg, der in einem regionalen Atomkrieg eskalieren würde, hätte globale Folgen: Hungersnöte, Fluchtbewegungen und ein nuklearer Winter drohen. Europa muss jetzt aktiv deeskalierend eingreifen. So gefährlich wie jetzt war die Situation seit Jahrzehnten nicht mehr, und so unberechenbar sind für uns die Akteure.

  • Kaschmir –
    Konfliktgebiet mit globaler Sprengkraft

Im Zentrum der aktuellen Krise steht erneut Kaschmir. Seit der Teilung Britisch-Indiens im Jahr 1947 beanspruchen sowohl Indien als auch Pakistan die gesamte Region für sich. Drei Kriege und zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen zeugen davon, wie tief der Disput reicht.

Der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt ist nach einem verheerenden Terroranschlag mit 26 Toten erneut eskaliert. Beide Atommächte haben als Reaktion fundamentale Abkommen wie das Shimla-Friedensabkommen und den Indus-Wasservertrag ausgesetzt, die bislang als Stabilisatoren galten.

Die diplomatischen Beziehungen sind auf ein Minimum reduziert, Grenzübergänge geschlossen und gegenseitige Ausweisungen verhängt. Die Gefahr eines offenen Krieges, möglicherweise mit Atomwaffen, ist so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

  • Die Bedeutung des Indus-Wasservertrags

Mit der Aussetzung des Indus-Wasservertrags droht eine weitere Eskalation. 70 Prozent der Wasserversorgung Pakistans hängen vom Indus und seinen Nebenflüssen ab – ein existenzielles Thema für das Land. Indien kann mit der Kontrolle der Wasserzufuhr erheblichen Druck auf Pakistan ausüben. Pakistan sieht darin einen „kriegerischen Akt“ und droht mit „allen Mitteln“ zu reagieren. Die Suspendierung des Vertrags könnte zudem als Präzedenzfall für China dienen, das mit einem gigantischen Staudammprojekt in Tibet die Wasserversorgung Indiens gefährden könnte.

  • Das Shimla Abkommen als Friedensgarant

Jahrzehntelang wirkten diplomatische Abkommen wie das Shimla-Abkommen von 1972 stabilisierend. Es sollte die zwischenstaatlichen Beziehungen auch bei Konflikten regeln. Doch mit der Aufkündigung dieses Vertrages durch Pakistan verschwand die letzte diplomatische Sicherung vor einem großen Krieg.

  • Militärisches Ungleichgewicht erhöht die Atomkriegsgefahr
Indien verfügt über eine deutliche militärische Überlegenheit gegenüber Pakistan. Mit rund 1,45 Millionen aktiven Soldaten, einem Verteidigungshaushalt von mehr als 70 Milliarden US-Dollar und moderner Rüstungstechnologie – darunter Rafale-Kampfjets, Atom-U-Boote und Langstreckenraketen – zählt Indien zu den führenden Militärmächten Asiens. Pakistan, unterhält rund 660.000 Soldaten und hat mit rund elf Milliarden US-Dollar etwa ein Siebtel des indischen Verteidigungsbudgets.

Während Indien enge sicherheitspolitische Partnerschaften mit den USA, Frankreich unRussland pflegt und Teil des strategischen Bündnisses QUAD ist, baut Pakistan insbesondere auf die militärische Unterstützung Chinas und – zunehmend – auf Kooperationen mit der Türkei. Die ungleiche konventionelle Stärke beider Staaten erhöht die Eskalationsgefahr: Pakistan könnte sich im Falle eines konventionellen Krieges gedrängt sehen, frühzeitig Nuklearwaffen einzusetzen, um eine Niederlage abzuwenden. Besonders gefährlich: Pakistan verfolgt eine „Full Spectrum Deterrence“ und entwickelt seit Jahren taktische Atomwaffen wie die Kurzstreckenrakete Nasr (Hatf-IX). Diese Waffen sind speziell für den schnellen Einsatz auf dem Gefechtsfeld vorgesehen und senken die Hemmschwelle zum Ersteinsatz dramatisch.

Indien verfolgt demgegenüber eine offizielle Doktrin des Non First Use, aber der massiven Vergeltung: Im Falle eines nuklearen Angriffs – egal in welchem Ausmaß – würde Indien mit einem umfassenden nuklearen Gegenschlag reagieren, der vor allem gegnerische Städte ins Visier nimmt. Beide Länder verfügen über wachsende Atomwaffenarsenale. Schätzungen zufolge besitzt sie etwa 170 Nuklearsprengköpfe in Form von Freifallbomben, Raketen oder Marschflugkörpern, die kontinuierlich modernisiert werden. Als Transportmittel für diese Trägersysteme nutzen beide Seiten Flugzeuge, ballistische Raketen oder U-Boote. Die Waffen basieren meist auf Kernspaltung, mit Sprengkraft von bis zu 20 Kilotonnen TNT, vereinzelt auch bis zu 100 Kilotonnen. Thermonukleare Waffen mit noch höherer Sprengkraft hat, nach Einschätzung von Experten, nur Indien getestet.

  • Trägersysteme und Einsatzmöglichkeiten
  • Beide Länder setzen Jagdbomber wie die indische Mirage 2000 und die pakistanische F-16 ein, die mit Freifallbomben oder atomaren Marschflugkörpern bestückt werden können.
  • Ballistische Raketen: Indien verfügt über Agni- und Prithvi-Systeme (bis zu 5.000 km Reichweite), Pakistan über Shaheen- und Ghauri-Raketen (bis zu 2.500 km).
  • U-Boote: Indien hat mit der INS Arihant ein atomgetriebenes U-Boot mit ballistischen Raketen (SLBM) in Dienst gestellt (seit 2016), Pakistan arbeitet an der Entwicklung seegestützter Systeme.
  • Taktische Atomwaffen: Pakistan setzt auf Kurzstreckenraketen wie Nasr (Hatf-IX) zur Abwehr konventioneller indischer Übermacht.
  • Szenarien einer nuklearen Eskalation und ihre Folgen

Aktuell sind mehrere plausible Pfade in den Nuklearkrieg zu sehen: Ein bewaffneter Großangriff der konventionell übermächtigen indischen Armee könnte Pakistan dazu verleiten, taktische Nuklearwaffen einzusetzen, um ein Vorrücken indischer Streitkräfte zu stoppen. Pakistan könnte eine kleinere Atomwaffe auf unbewohntem Gebiet zünden, um Entschlossenheit zu signalisieren. Auf einen solchen Schritt oder einen Angriff Pakistans folgend könnte Indien, wiederum seiner Doktrin folgend, als Antwort ganze Städte mit Atomwaffen angreifen.

Dann wäre ein umfassender Austausch nuklearer Schläge kaum noch zu stoppen und könnte innerhalb weniger Stunden 100 Millionen oder mehr Menschen töten.

  • Die globalen Folgen eines regionalen Nuklearkriegs

Da die Spannungen zwischen Indien und Pakistan schon vor Jahren immer wieder zu eskalieren drohten, haben der Klima-Wissenschaftler Alan Robock und Kollegen die Folgen eines regionalen Atomkriegs zwischen Indien und Pakistan 2019 in einer Studie simuliert. Im schlimmsten Fall könnten beide Seiten innerhalb einer Woche jeweils 100 bis 150 Atomwaffen einsetzen – mit katastrophalen Folgen:

  • Bis zu 125 Millionen direkte Todesopfer durch Explosionen, Feuer und Strahlung.
  • 16 bis 37 Millionen Tonnen Ruß und Rauch steigen in die Atmosphäre, blockieren 20–35% des Sonnenlichts und führen zu einem globalen Temperatursturz um 2–5 Grad Celsius.
  • Global reduzierte Niederschläge von 15-30% würden zu erheblichen Dürren und Wasserknappheit führen.
  • Weltweit massive Ernteausfälle: Die landwirtschaftliche Produktion sinkt um bis zu 30 Proznet an Land und 15 Prozent im Meer – für mindestens zehn Jahre.
  • Hungersnöte und Fluchtbewegungen: Weltweit könnten Hunderte Millionen Menschen betroffen sein, besonders in ärmeren Ländern. Auch Europa wäre mit massiven Fluchtbewegungen konfrontiert.
  • Der asiatische Raum als globales Pulverfass

Im asiatischen Raum existieren mit Pakistan, Indien, Nordkorea und China nicht nur vier unterschiedlich konkurrierende Atommächte, sondern auch sogenannten atomare Schwellenländer: Staaten mit nuklearem Material und Know-How wie Südkorea oder Japan, könnten sich angesichts der gefühlten Bedrohung zur Entwicklung eigener Atomwaffen entschließen.

  • Europäische Interessen

Der Konflikt und die Eskalation zwischen Indien und Pakistan ist keine regionale Angelegenheit. Ein Atomkrieg hätte globale Auswirkungen – auf Klima, Ernährungssicherheit und Migration. Auch Europa wäre massiv betroffen.

Die aktuelle Krise zeigt, wie brüchig die Sicherheitsarchitektur ist und wie schnell jahrzehntelange Abkommen in Frage gestellt werden können. Es ist auch in deutschem und europäischem Interesse, das zu verhindern, den Dialog zwischen den Konfliktparteien zu fördern und sich für die Einhaltung und Stärkung internationaler Abkommen einzusetzen.

Der Konflikt zwischen den Atomstaaten veranschaulicht auf erschreckende Weise, wohin ein nukleares Wettrüsten führt: zu einer Welt, in der die Unsicherheit für alle Menschen unaufhaltsam wächst. Angesichts dessen ist es nicht verständlich, dass der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD kein Wort zum Ziel einer atomwaffenfreien Welt oder auch nur zur Nichtverbreitung von Atomwaffen enthält. Der Einsatz für die Nichtverbreitung und Abrüstung von Atomwaffen ist in unser aller Interesse eine Aufgabe jeder zukünftigen Bundesregierung.@

https://www.telepolis.de/ 3.5.25

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