AKW Neckarwestheim: Ehemaliger Bundes-Atomaufseher bestätigt akute Atom-Gefahr

Im roten Bereich

von Armin Simon

Eine Berechnung der Materialprüfungsanstalt Stuttgart zeigt: Mindestens vier der Riss-Rohre im AKW Neckarwestheim waren schon so stark geschädigt, dass ihr Versagen unter Störfallbedingungen nicht auszuschließen war – und das völlig unbemerkt.

Eine Berechnung der Materialprüfungsanstalt (MPA) Stuttgart im Auftrag von .ausgestrahlt bestärkt die massiven Zweifel an der Sicherheit des AKW Neckarwestheim 2. Der jüngste Reaktor in Deutschland hat seit Jahren mit gefährlicher Spannungsrisskorrosion zu kämpfen. Unvorhersehbar schnell wachsende Risse fressen sich ringförmig in nur 1,2 Millimeter dicke Rohrwände. Durch die Rohre fließt unter sehr hohem Druck heißes, radioaktives Wasser direkt aus dem Reaktorkern. Je tiefer und länger die Risse in den Rohrwänden sind, desto instabiler werden die Rohre. Wird die Belastung zu groß, können sie platzen oder abreißen. Ein gefährlicher Kühlmittelverlust-Störfall wäre die Folge, der nach Expertenaussage nur noch mit komplizierten Handmaßnahmen in den Griff zu bekommen wäre – immer vorausgesetzt, es versagt nur ein einziges der 16.000 Heizrohre. Reißt mehr als ein Rohr ab (genauer: ist die Leckquerschnittsfläche größer als zwei offene Rohrenden), ist der Störfall schon auslegungsüberschreitend – eine Kernschmelze ist dann auch offiziell nicht mehr ausgeschlossen.

Nach den in Deutschland geltenden Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke muss daher zu jedem Zeitpunkt sichergestellt sein, dass alle Dampferzeuger-Heizrohre nicht nur den normalen betrieblichen Belastungen, sondern auch den bei bestimmten Störfällen zu erwartenden standhalten. In Neckarwestheim2, behauptet das Umweltministerium in Stuttgart, sei das sichergestellt. Denn alle Rohre, auch die rissigen, hätten stets noch "ausreichend Reserven" aufgewiesen. Aber stimmt das?

    Ausreichende Reserven?

Unter den mehr als 300 Rissen, die in den Heizrohren in Neckarwestheim2 bereits entdeckt wurden, waren auch etliche sehr lange und sehr tiefe. Keiner dieser Risse hat zu einem Leck geführt. Das klingt erstmal gut. Tatsächlich aber verschärft es die Situation. Denn es bedeutet, dass die Schädigung während des laufenden Betriebs komplett unbemerkt blieb und auch durch kein Verfahren hätte bemerkt werden können. Auch von solchen Rissen betroffene Rohre aber müssen den Belastungen eines Störfalls noch sicher standhalten. Um zu klären, ob das tatsächlich der Fall war, hat .ausgestrahlt die Materialprüfungsanstalt Stuttgart das Rest-Tragvermögen von Dampferzeuger-Heizrohren, die Risstiefen von 85 und 83 Prozent der Wandstärke aufweisen, berechnen lassen. Risstiefen also, die in Neckarwestheim2 mehrfach schon übertroffen wurden.

Zur Anwendung kam für die Berechnung die im Kerntechnischen Regelwerk (KTA-Regel 3206) beschriebene sogenannte "FSK/MPA"-Methode mit den für die Rohre in Neckarwestheim2 zutreffenden Materialkenndaten. Gemäß dieser KTA-Regel ist zudem für eine solche Berechnung die komplette Risslänge und die maximale Risstiefe anzugeben. Das trägt dem im Kerntechnischen Regelwerk geforderten Prinzip der "konservativen", das heißt vorsichtigen Herangehensweise Rechnung. Risseinleitung, Rissausleitung und detaillierte Rissform sind diesem Prinzip folgend für die Sicherheits-Berechnung ohne Belang.

Das Ergebnis der MPA-Berechnung ist im abgebildeten Schaubild zu erkennen: Demnach sinkt bei derart rissgeschädigten Rohren schon ab einer Risslänge von 34 bzw. 38 Millimeter die Tragfähigkeit unter die entscheidende Schwelle von 9,1 Newton-Metern (Nm) ab. Das ist die Belastung, mit der nach Aussage von EnBW und TÜV bei einem Störfall zu rechnen ist. (In der Grafik ist sie als rote waagrechte Linie eingezeichnet.) Demnach ist für mindestens vier, wenn nicht gar fünf Riss-Rohre aus Neckarwestheim – in der Grafik in Rot eingetragen – ein Versagen im Störfall nicht sicher auszuschließen; der gesetzlich geforderte Tragfähigkeitsnachweis kann so nicht erbracht werden. Das Ministerium hat auf Nachfrage von .ausgestrahlt mehrfach bestätigt, dass es diese KTA-Regel 3206 für maßgeblich hält und auch keine andere offiziell anerkannte alternative Methode genannt, nach der es den Nachweis führen will.

Anders als von der baden-württembergischen Atomaufsicht stets behauptet liegt also kein den Anforderungen des kerntechnischen Regelwerks entsprechender "Integritätsnachweis" für die Riss-Rohre in Neckarwestheim vor. Der Reaktor ist demnach schon 2018, als die besagten Risse entdeckt wurden, im "Störungsmodus" (Sicherheitsebene 2) gelaufen und hätte vor einer vollständigen Beseitigung der Korrosionsschäden nicht wieder ans Netz gehen dürfen. Nichts anderes hat .ausgestrahlt zusammen mit dem BBMN, dem BUND und mehreren Anwohner*innen des AKW im Sommer beim Umweltministerium formal beantragt.

Das Minsterium hat diesen Antrag im November unter Verweis auf zwei Gegengutachten abgelehnt; der Reaktor selbst ist mit Billigung der Atomaufsicht schon seit Juli wieder am Netz. Beide Gegengutachter stützen ihre Expertise darauf, dass die Integrität auch aller Riss-Rohre angeblich nachgewiesen sei.

.ausgestrahlt hat die Gegengutachter deshalb mit den Rechenergebnissen der MPA konfrontiert und um eine Stellungnahme gebeten. Daraufhin intervenierte das Ministerium und untersagte ihnen, sich dazu zu äußern. Auch der TÜV lehnte eine Stellungnahme ab.

    Akute Gefahr

Brisant sind die MPA-Berechnungen nicht nur, weil ohne Integritätsnachweis schon 2018 die gesetzlich geforderte Störfallbeherrschung des Reaktors nicht mehr gegeben war – unter Umständen monate- oder jahrelang und ohne dass es das grüne Umweltministerium in Stuttgart bisher eingeräumt hätte. Viel brisanter noch ist die akute Gefahr, die in Neckarwestheim2 bis heute droht. Denn die Ursache der Risse, die Korrosion in den Dampferzeugern, ist bis heute nicht behoben. Auch nach Aussage des Ministeriums und des TÜV kann es dort weiterhin zu neuen Rissen kommen.

Das Ministerium stellt sich bisher auf den Standpunkt, solche Risse stellten keine Gefahr dar, weil sie niemals so lang und tief werden könnten, dass sie die Tragfähigkeit der Rohre gefährdeten. Als Begründung dafür verweist die Behörde auf … den angeblich vorliegenden Integritätsnachweis. Soll heißen: Bisherige Risse hätten die Integrität nicht beeinträchtigt, also komme das wohl auch in Zukunft sicher nicht vor. Die MPA-Berechnungen hingegen lassen die Betriebserfahrungen aus Neckar

westheim2 in einem gänzlich anderen Licht erscheinen: Risse, zeigen sie, konnten in Neckarwestheim2 völlig unbemerkt und ohne dass ein Leck sie verraten hätte bereits so stark wachsen, dass die Rohre unter Störfallbelastungen nicht mehr sicher standgehalten hätten. Ihre geforderte Integrität war also nicht mehr gegeben. Und genau das kann sich jeden Tag wiederholen.

Davor die Augen zu verschließen, ist genau der Fehler, den die japanische Atomaufsicht in Fukushima begangen hat: Sie hat an Annahmen festgehalten, die bereits durch die Realität widerlegt waren. In Fukushima waren das Erdbebenstärken und Tsunamiwellenhöhen – jeder hätte wissen können, dass diese höher ausfallen können als beim Bau des AKW Fukushima angenommen. In Neckarwestheim klammern sich der grüne Umweltminister und seine Atomaufsicht an Annahmen zum Risswachstum, die in ebenjenem Reaktor selbst bereits übertroffen und widerlegt wurden.@

www.ausgestrahlt.de// 5.2.21

 

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