Psychosoziale Langzeitfolgen

von Dr. Angelika Claußen

Warum lässt die japanische Regierung bei der radioaktiven Katastrophe von Fukushima fast ausschließlich psychische Folgen erforschen und nicht die somatischen? Wenn es nicht um Atomunfälle geht, sondern um die gesundheitlichen Folgen etwa von Verkehrsunfällen, so besteht in der medizinischen wissenschaftlichen Community kein Zweifel daran, dass diese sowohl schwere physische als auch schwere psychische Schäden verursachen können und dass die betroffenen Menschen oft jahrelang an bleibenden psychischen Schäden leiden. Die Studien des Fukushima Health Management Survey (FHMS) machen jedoch deutlich: Hier werden die körperlichen Folgen systematisch ausgespart. So, als hätte die Atomkatastrophe "nur" psychosoziale Folgen.

Bei der Dreifachkernschmelze von Fukushima Daiichi traten nach Informationen der japanischen Regierung an die Internationale Atombehörde 1,5 x 1016 Becquerel Cäsium-137 aus. Damit räumte die Regierung indirekt ein, dass in Fukus­hima im Vergleich mit der Atombomben­explosion von Hiroshima das 168-fache dieser gefährlichen Substanz freigesetzt wurde. Der nukleare Ausnahmezustand vom 11. März 2011 in der unbewohnbaren Sperrzone dauert bis heute an. Über 200.000 Menschen wurden innerhalb weniger Tage aus einer Zone von 20 km rund um die havarierten Reaktoren von Fukushima zwangsevakuiert. Dies bedeutete für Viele Entwurzelung, Unsicherheit, das Auseinanderreißen funktionierender sozialer Beziehungen und Existenzverlust. Vor allem ältere Menschen überstanden die Lebensbedingungen in den kleinen Notunterkünften oft nicht. Andere nahmen sich das Leben.

Mittelbar hängen über 2.000 Todesfälle mit dem Super-GAU zusammen. Die Regierung setzte Gesetze über Strahlenbelastungen außer Kraft und ließ mehrere Millionen Menschen im Stich, die weiter in kontaminierten Gebieten wohnen mussten. Sie erklärte 20 Millisievert pro Jahr zum Standard, um die Wiedereröffnung vieler gesperrter Gebiete zu genehmigen. Damit setzte sie die Menschen, auch die besonders strahlenempfindlichen Kinder, einer unzulässigen Strahlenbelastung aus. Die Reaktionen der japanischen Behörden im ersten Monat nach der Atomkatastrophe deuten auf eine Schockstarre hin. Intransparenz und Fehlinformationen seitens der Regierung verunsicherten die Menschen zutiefst. So sagte etwa der oberste Strahlenschutzexperte der japanischen Regierung, Prof. Shunichi Yamashita, beim "Bürgertreffen" am 20. März 2011: "Strahlenschäden kommen nicht zu Menschen, die glücklich sind und lächeln." Jahresdosen von 100 mSV, so Yamashita, seien unbedenklich.

Am 15. März 2011 kam es wegen eines Wechsels der Windrichtung zu einer Verstrahlung der Gemeinde Iitate außerhalb der Evakuierungszone. Es wurden 45 Mikrosievert/h gemessen. Iitate wurde erst auf Druck der Bevölkerung am 12. April evakuiert. Die Anwohner*innen hatten eigenständige Messungen vorgenommen. Weil sich viele Menschen von den Behörden im Stich gelassen fühlten, begannen sie, sich mit den gesundheitlichen Folgen von radioaktiver Strahlung auseinanderzusetzen. Um der anhaltenden Strahlenexposition zu entkommen, mussten Familien sich tren­nen, Mütter flohen mit den Kindern in weit entfernte Gebiete Japans, Väter blieben wegen ihres Arbeitsplatzes im verstrahlten Gebiet. Bis heute hält dieser Vertrauensverlust in die japanische Regierung an. Welche medizinischen Fragestellungen wurden untersucht? Der FHMS im Auftrag der japanischen Regierung beschränkte sich auf wenige begrenzte medizinische Fragenstellungen bei der Bevölkerung im Evakuierungsgebiet.

Geradezu skandalös ist die Tatsache, dass der Gesundheitszustand der Aufräumarbeiter von Fukushima, der am stärksten von radioaktiver Strahlung betroffene Gruppe, nicht in die amtlich in Auftrag gegebenen Untersuchungen eingeschlossen wurde. Sogar die Empfehlung aus einem Workshop (2012) mit Mitgliedern der Internationalen Agentur für Krebsforschung und der japanischen Regierung der u.a. den Aufbau eines bevölkerungsbasierten Krebsregis­ters beinhaltete, wurde ignoriert.

Alle Maßnahmen der japanischen Regierung, die das Ziel hatten, das Ausmaß der Katastrophe gegenüber der Bevölkerung herunterzuspielen, fanden im Einverständnis großer internationaler Organisationen statt: von UNSCEAR, dem wissenschaftlichen Komitee der UN zu den Auswirkun­gen atomarer Strahlung, und von der IAEO, der Internationalen Atomenergiebehörde.

    Die psychosozialen Studien

Auffällig an allen Studien ist, dass sie sich in der Auswertung von Fragebogentests erschöpfen. Da die Studien nicht in klinische Untersuchungen und Behandlungen eingebettet sind, fehlen Angaben zum Schweregrad der jeweiligen psychi­schen Störung wie auch Fallbeispiele. Ab 2012 führte die FHMS mit ca. 210.000 Menschen aus der Evakuierungszone verschiedene populationsbezogene Fragebogentests zu psychischer Gesundheit durch.

M. Maeda et al. widmen sich den sozialen und psychischen Folgen der Atomkatastrophe: Diese hatte die Bevölkerung der Provinz völlig überrascht. Die Menschen waren in einen Zustand von panischer Lähmung versetzt, mit der Ungewissheit über die Folgen der radioaktiven Ausbreitung. Am stärksten waren Mütter mit kleinen Kindern betroffen. Die Folgen waren ein Anstieg von Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Alkoholmissbrauch, Selbstmordhandlungen sowie von öffentlicher Stigmatisierung und Selbststigmatisierung. Bei der Angst der Evakuierten vor einer Kernschmelze und der damit zusammenhängenden Ausbreitung der radioakti­ven Strahlung handelt es sich jedoch um eine Realangst, eine adäquate Reaktion auf diese reale Gefahrensituation.

    Die fehlende Transparenz seitens der Behörden hat die betroffenen Menschen zusätzlich beeinträchtigt.

Wie haben die Menschen auf diesen Stressfaktor reagiert? Eine frühe Studie von Miura et al. (2012) beschreibt, dass in den ersten 96 Tagen nach der Atomka­tastrophe 1.321 Menschen die psychiatri­sche Ambulanz in Fukushima aufsuchten. Bei 13,9 % von ihnen wurde eine post­traumatische Belastungsstörung oder auch eine Anpassungsstörung diagnostiziert, bei 17,2 % eine depressive Episode, davon wiederum 30 % als Folge der Atomkata­strophe.

Die Suizidrate in Japan ist eine der höchsten weltweit. Verantwortlich dafür werden neben psychischen Erkrankungen soziale und wirtschaftliche Umbruchsituationen gemacht. Auch in den Evakuierungsgebieten von Fukushima wurde die Suizidmor­talitätsrate untersucht: Laut Matsuyabashi et al. (2013) kam es im ersten Jahr zu einem Anstieg, besonders bei Männern, dann 2012-13 zu einem Abfall und dann zu einem erneuten Anstieg auf gleichblei­bend hohem Niveau. Hierfür dürfte eine Vielzahl von Faktoren verantwortlich sein: Trennung von der Familie, plötzlicher Ver­lust des Arbeitsplatzes und damit verbundener Statusverlust, Verlust sozialer Beziehungen.

Allerdings erscheint die bloße altersstandardisierte und geschlechtsspezifische Suizidrate als Maß für die psycho­soziale Belastung wenig aussagekräftig. Yasoto Kunii et al. (2016) fanden in ihrer Studie über psychische Belastungen bei Evakuierten eine Korrelation zwischen der Höhe der radioaktiven Belastung in dem jeweiligen Bezirk der Präfektur und dem Ausmaß an psychosozialem Stress, dem die Bevölkerung ausgesetzt war. Auf den beiden Karten (s.o.) sieht man, dass in den Zonen mit der höchsten Strahlenbelastung (zwei bis acht Mikrosievert/h) die Menschen mit der größten psychischen Belastung wohnen. Einzelne Faktoren, die in diesen Stressparameter eingehen, können vielfältig sein: Trennung in der Familie, Veränderung der Wohnsituation, Arbeitslosigkeit, verringertes Einkommen und Unsicherheit bezüglich der Zukunft.

Mobbing bei Kindern und Jugendlichen: Sawano et al. (2018) befassten sich mit 199 Fällen von Stigmatisierung, die bei evakuierten Kindern bekannt geworden seien, 13 Fälle hätten einen direkten Bezug zur Evakuierung gehabt. Ein Beispiel: Ein Junge, der nach Yokohama umgesiedelt war, wurde von seinen Mitschülern im Zeitraum von 2011-14 geschlagen und getreten und von den Mobbern gezwungen, ihnen insgesamt ca. 13.200 US-Dollar zu zahlen.

Der aktuelle Bericht der FHMS (2021) bestätigt die wesentlichen Ergebnisse der referierten Studien: Der starke Anstieg von Depressionen, posttraumatischen Belas­tungsstörungen, Alkoholmissbrauch und Suizidhandlungen unter den erwachsenen Evakuierten (über 16 Jahre) sei aber nach wie vor höher als die Raten von Menschen mit psychosozialen Problemen und Erkrankungen in ganz Japan. Besorgniserregend sei weiterhin die relativ hohe Rate der psychosozialen Belastungen bei Schulkindern.

Fazit: Allen Studien fehlt die Einbettung in eine ganzheitliche Perspektive: Körperliche und psychische Befunde gehören zusammen, Diagnostik und Behandlung müssen Teil ein- und desselben Versorgungsprozesses sein. Fallvignetten, die die schwierige Situation der evakuierten Bevölkerung und der betroffenen Aufräumarbeiter illustriert hätten, wären sowohl für das medizinische und psychologische Personal als auch für die internationale Fachöffent­lichkeit wichtig. Klinische Studien mit ganzheitlichen Studiendesign, die die Tatsache der anhaltenden radioaktiven Exposition offenlegen, hätten auch Aufschluss darüber geben können, welche psychosozialen Bewältigungsmechanismen in einer Gesellschaft angemessen sind, die durch kollektive Werte geprägt ist. @

aus: ippnw-Forum 165
vom März 2021

 

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