Über Corona und Militarismus

Keine Kugel hält einen Virus auf

von Christine Schweitzer
Bund für zivile Verteidigung

Die Corona-Pandemie ist nicht allen ungelegen gekommen. In ihrem Schatten haben populistische und diktatorische Regime, Rechtsextremist*innen und das Militär vieler Länder davon profitiert, dass die öffentliche Aufmerksamkeit abgelenkt ist.

Anfang Mai fand der Internationale Rat der War Resisters‘ International statt, dem 1921 gegründeten Netzwerk pazifistischer und antimilitaristischer Gruppen aus aller Welt. Es wurde online abgehalten, nicht wegen Corona, sondern weil seit etlichen Jahren fast jedes zweite Ratstreffen über zehn Tage so stattfindet. Er war eine Gelegenheit, die weltweiten Erfahrungen zum Thema "Militarisierung und Corona" zusammenzutragen und zu vergleichen.

    Friedensdividenden:
    Weitgehend Fehlanzeige

Der verheerende Tsunami zu Weihnachten 2004 in Südostasien traf zwei Bürgerkriegsregionen: Die indonesische Provinz Aceh und Sri Lanka. In Aceh machte er einen Friedensprozess möglich, der August 2005 zu einem Friedensvertrag führte. Manche Beobachter*innen hofften, dass die Coronakrise ähnliche positive Nebenwirkungen haben würde, wenn frühere Feinde zusammenrücken würden, um gemeinsam die Pandemie zu bekämpfen. Der UN-Generalsekretär António Guterres rief am 23. März zu einem globalen Waffenstillstand auf, damit sich alle auf die Bekämpfung des Virus und die Erleichterung der humanitären Hilfe für die betroffene Bevölkerung konzentrieren könnten. Doch nur zwölf bewaffnete Parteien in zehn Ländern weltweit erklärten solche vorübergehenden Waffenstillstände, und noch weniger halten sie ein: Zu letzteren gehören derzeit (Mitte Mai) die ELN in Kolumbien, Regierung und verschiedene Rebellengruppen im Sudan, die kommunistischen Aufständischen und die philippinische Regierung, Israel und Hamas im Gazastreifen und eine große Rebellengruppe in Thailand. In fünf weiteren Fällen - Ukraine, Jemen, Kamerun, Libyen und Afghanistan - sind die Waffenstillstände nur von einer von vielen bewaffneten Parteien verkündet und / oder nur teilweise eingehalten worden, wenn sie überhaupt begannen. In Myanmar ist der Bürgerkrieg abgeflaut, die Regierung hat einen viermonatigen Waffenstillstand verkündet und arbeitet mit den Rebellen bei der Bekämpfung von Covid-19 zusammen – leider mit einer Ausnahme: In Rakhine, dem Heim der Rohingyas, geht der bewaffnete Konflikt weiter.

In anderen Ländern verschärften sich die Konflikte - vielleicht auch, weil die Pandemie die internationale Aufmerksamkeit monopolisiert und Unterstützungsangebote für Friedensprozesse weniger werden. Beispiele sind Libyen, Nordsyrien, wo die Türkei weiter kämpft, und der Südsudan.

    Frieden schaffen ist
    nicht systemrelevant

Die meisten international tätigen NGOs im Bereich der Friedensarbeit (Peacebuilding, Peacekeeping) haben dieses Jahr einen Rückgang der Aktivitäten hinnehmen müssen, ausgelöst durch den Abzug von Personal und Freiwilligen, der Unzugänglichkeit von Regionen wegen des Shutdowns und dem erwarteten Stopp von Finanzierung. Viele fürchten, dass sich dieser Trend, zumindest was Länder des globalen Südens angeht, fortsetzt.

    Repression, Gewalt und Hunger

In etlichen Ländern haben Militär und militarisierte Polizei den Lockdown zum Vorwand genommen, ihre Machtbefugnisse nicht nur auf die Pandemie beschränkt vorübergehend wie in Deutschland, sondern dauerhaft auszubauen (Ungarn) und mit Gewalt gegen Oppositionelle oder bestimmte ethnische Gruppen vorzugehen. In Indonesien setzt die Regierung militärische Strategien ein, die für die Aufstandsbekämpfung entwickelt wurden – vom Herunterspielen der Gefahr über Desinformation bis hin zu Verfolgung von Bürger*innen, die sich kritisch gegenüber der Regierung äußern. In Nigeria sind nach Angaben der National Human Rights Commission seit dem Lockdown vom 30. März bis zum 16. April 18 Menschen von Polizeikräften umgebracht worden – Corona waren im gleichen Zeitraum nur 12 Menschen zum Opfer gefallen. In Kamerun, wo Anfang März im Süden des Landes heftige Kämpfe stattfanden, hat nur eine der zwölf Rebellengruppen dem von der UN vorgeschlagenen Waffenstillstand am 25. März zugestimmt, und die Regierung blockiert humanitäre Hilfe in die betroffenen Gebiete. In Ostjerusalem hat die israelische Polizei Jugendliche und ihre Eltern zusammengeschlagen, die vor ihren Häusern saßen. In Belarus (wie in Brasilien unter anderem) leugnet der Präsident, dass es eine Seuche gäbe; Bürgerinitiativen, die Schutzkleidung etc. für Krankenhäuser sammelten, wurden ebenso bedroht wie Lehrer*innen, die dulden, dass ihre Schüler*innen zuhause bleiben. In verschiedenen Ländern Lateinamerikas haben die Zahl und der Grad an Aktivität rechter Milizen stark zugenommen.

Der Corona-Shutdown hat in sehr vielen Ländern des globalen Südens zu Not und Hunger geführt – von Indien und Bangladesch bis Chile. In Chile gab es deshalb Mitte Mai Unruhen in einigen Städten. Mancherorts droht die Zahl der Hungertoten in Folge von Corona die der an Covid-19 Verstorbenen zu überflügeln, sofern keine schnelle Hilfe geleistet wird, wobei natürlich beides auch zusammenhängt – wer unterernährt ist, hat auch der Krankheit wenig entgegenzusetzen. Das Welternährungsprogramm der UNO warnte schon im April vor einer "Hungerkatastrophe biblischen Ausmaßes". Es wird gefürchtet, dass sich die Zahl der Hungertoten – schon jetzt jedes Jahr neun Millionen Menschen – dieses Jahr verdoppeln könnte.

Länder der Europäischen Union – auch Deutschland – haben wie die USA die Abschiebung von unerwünschten Geflüchteten trotz der Krise fortgesetzt, ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Abgeschobenen und der Bürger*innen der Länder, die sie aufnehmen mussten. In Deutschland wurden dafür teilweise extra Flugzeuge gechartert. Von den USA und Mexiko wurden zwischen März und Mitte April nach den vorliegenden Zahlen mindestens 6.500 Guatemaltek*innen, 5.000 Honduraner*innen und 1.600 Salvadorianer*innen deportiert. Jetzt (letzte Maiwoche) überlegt die Bundesregierung, Menschen nach Syrien abzuschieben. Derzeit werden in Deutschland fast alle Einschränkungen der Grundrechte mit der außergewöhnlichen Situation und der Unsicherheit der Regierenden und Verwaltungen gerechtfertigt. Dass in manchen Situationen berechtigte Vorsicht zu Willkür und Repression wurde, wird dabei immer deutlicher sichtbar und auch ausgesprochen. Das Komitee für Grundrechte schrieb dazu: "Außerparlamentarische Proteste, die ein Korrektiv sein könnten, sind nahezu verunmöglicht. Da, wo kleine Proteste unter Beachtung der vorgeschriebenen hygienischen Anordnungen stattfanden, wurden diese aufgelöst und einzelne Teilnehmende sanktioniert. Dadurch wird mitnichten die Bevölkerung geschützt, sondern allein die untertänige Befolgung er Anordnungen durchgesetzt."

Last not least: Die jetzt angewandten oder noch geplanten, teilweise derzeit noch als "freiwillig" deklarierten Überwachungsmaßnahmen könnten schnell zu Standardoperationen werden. Es gibt niemand, weder in Deutschland noch in anderen Ländern, die oder der garantieren kann, dass die gesammelten Daten nicht auch noch für andere Zwecke als der Verfolgung von Ansteckungswegen verwendet bzw. die neuen technischen Möglichkeiten auch nach der Überwindung von Corona weiter genutzt werden. Orwells 1984 rückt damit wieder ein Stück näher.

    Militär übernimmt wichtige
    gesellschaftliche Funktionen

Das Verhältnis von Militär und Polizei ist in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich geregelt. In manchen ist es fast normal, dass Militär zur Verstärkung von Polizei eingesetzt wird (unter anderem auch Frankreich oder Israel), in anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland gibt es hierfür enge Grenzen. Doch davon unabhängig: Praktisch überall wurde Militär zur Unterstützung der Maßnahmen der Krisenbekämpfung eingesetzt. Es stellte dabei nicht nur Transport und medizinische Ausrüstung, Sanitäter*innen oder, wie in New York, ein ganzes Hospitalschiff zur Verfügung. In Baden-Württemberg wollte die Regierung 400 Soldat*innen für die Bewachung einer Geflüchtetenunterkunft und 400 weitere für die Kontrolle der Ausgangssperre einsetzen – erst auf Protest hin zog sie den Vorschlag zurück. In Israel riss das Militär das gesamte Management der Krise an sich. In vielen Ländern unterstützt es die Polizei bei der Überwachung der Ausgangssperren und –restriktionen. Und es nutzt diese Unterstützungsaufgaben, um seine eigene Legitimität und Wichtigkeit hervorzuheben. Das geht bis dahin, dass damit auch für die Rekrutierung neuer Soldat*innen geworben wird, wie die britische Gruppe Forces Watch recherchierte. Der Kopf der Royal Marines, verschiedene Infanterie-Regimenter und der Verteidigungsminister hätten alle die Pandemie mit dem Aufruf verbunden, ins Militär zu kommen.

 

    "Mit mehr oder weniger Öffentlichkeitswirkung sind die großen Gewinner dieser Krise von COVID19 in Lateinamerika und der Karibik (aber nicht nur hier) die Streitkräfte, das Militär und die Polizei: Freibrief zur Unterdrückung, Straffreiheit, Beherrschung und Kontrolle des öffentlichen Raums, der Straßen und Wege, Image-Waschung, Vorrang bei den öffentlichen Ausgaben, Erklärungen von Ausnahmezuständen, die ihnen die rechtliche Kontrolle über die Territorien und so weiter geben. Militarisierung der Polizei und die Polizeilichung des Miltärs sind zwei Seiten derselben Medaille mit einer langen Geschichte in unserer Region. Jetzt geschieht es unter dem Vorwand der öffentlichen Sorge über die Pandemie, und unter dem Vorwand der "Eindämmung der Panik" versuchen sie sogar, sich unseren Netzwerken und digitalen Medien aufzuzwingen. Dieser Moment ist ein Test für die Fähigkeit unserer Völker, die soziale Militarisierung klaglos und resigniert hinzunehmen, zu unterstützen und aufrechtzuerhalten, getrieben von der panischen Angst, die die Massenmedien enthusiastisch fördern. [Wir rufen dazu auf], die sozialen Räume nicht der Militarisierung zu überlassen und Rechenschaft darüber abzulegen, wie diese Militarisierung in unseren Gemeinschaften vor sich geht."
Statement des Antimilitaristischen
Netzwerks Lateinamerika und Karibik
RAMALC, 1. April 2020

    Der "Krieg gegen Corona"

Weltweit reden Politiker*innen (zum Beispiel Macron und Johnson) und Medien vom "Krieg gegen Corona" und streuen immer wieder militärische Metaphern in ihre Reden ein. "Feldzug", Feind", "an der Front stehen", "Kriegswirtschaft" – kaum ein Tag ohne solche Begriffe, egal wie oft darauf hingewiesen wird, dass ein Virus nicht erschossen werden kann. Dennoch gibt es Parallelen, die Angst machen können: Auch in einem modernen internationalen Krieg wird von der Bevölkerung erwartet, dass sie zuhause bleibt und sich nicht etwa auf die Flucht macht. "Stay put" war schon die Maxime in den alten Atomkriegsszenarien der 1970er und 1980er Jahren, und Soldaten trainierten, sich notfalls mit ihren Panzern einen Weg durch flüchtende Massen zu bahnen. Insofern ist die Befürchtung, die einige Aktivist*innen beim Treffen der WRI äußerten, dass die Pandemie auch dazu genutzt werde, die Bereitschaft zu Gehorsam der Bevölkerung zu testen, nicht völlig von der Hand zu weisen.

    Aufrüstung im
    Schatten der Krise

Die Medien nicht nur bei uns in Deutschland haben im Moment praktisch nur noch ein Thema: Corona. Vermutlich meinte die deutsche Verteidigungsministerin, das sei eine gute Gelegenheit, Fakten zu schaffen und kündigte gegenüber ihrem amerikanischen Kollegen Mark Esper den Kauf von bis zu 45 F-18 Boeing-Kampfjets an, bevor sie den Bundestag informierte. Später leugnete sie, eine Zusage gegeben zu haben, aber erst, als es aus Parlament und Zivilgesellschaft trotz Corona einen Aufschrei gegeben hatte. Ebenso begannen im Mai auch die schon zuvor von der Regierungskoalition geplanten Expert*innenanhörungen zu bewaffnete Drohnen. "Dies verstehen wir als Auftakt und Möglichkeit für eine breite gesellschaftliche Debatte über die für deutsche Streitkräfte dann geltenden Rahmenbedingungen, unter denen die Bereitstellung bewaffneter Drohnen möglich wäre", wird von der Katholischen Sonntagszeitung ein Einladungsschreiben des Ministeriums an die Fraktionen zitiert. Öffentliche Diskussionsveranstaltungen solle es unter anderem an Universitäten geben, "um dem Thema eine breite Resonanz zu verschaffen". Interessante Behauptung – zu einer Zeit, wo es keine öffentlichen Veranstaltungen, weder an Unis noch anderswo, gibt!

    Die Krisen systemisch sehen

Die Pandemie, Hungersnöte, Kriege, Flucht, Klimawandel, Umweltzerstörung, die drohende Weltwirtschaftskrise – auch wenn wir allein aus psychischem Selbstschutz meist immer nur eine, bestenfalls zwei dieser Krisen bewusst wahrnehmen können –-sie hängen zusammen. Corona hat uns, wie vielfach anderenorts kommentiert wurde, nicht nur die Schwächen der rücksichtslosen Privatisierung in essentiellen Lebensbereichen wie der Gesundheitsversorgung und einer Globalisierung, bei der die Unterbrechung von Handelswegen lebensgefährdend werden (Schutzmasken aus China…) gezeigt. Wir sollten aus vergangenen Krisen lernen! Die Weltwirtschaftskrise 1929 brachte indirekt die Nazis an die Macht, stärkte den Militarismus und ist letztlich damit eine der Ursachen des zweiten Weltkriegs und des Holocaust gewesen. Daraus sollten wir lernen. Auch jetzt versuchen Rechtsextreme von der Krise zu profitieren, indem sie Proteste kanalisieren. Die so vernünftige Forderung nach Umschichtung von Ressourcen weg vom Militär ist bislang auf kleine Kreise aus der Friedensbewegung beschränkt. Dasselbe gilt für die Aufnahme von Geflüchteten. Die Forderung nach einem ökologischen Umbau beim Wiederaufbau des Wirtschaftssystems nach der Krise findet etwas mehr Gehör, droht aber auch, der starken Lobby der Unternehmensverbände zu unterliegen. Deshalb braucht es jetzt eine starke Stimme derjenigen, die eine andere, friedliche, sozial gerechte und ökologisch verantwortungsvoll handelnde Gesellschaft wollen.@

Dr. Christine Schweitzer
ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung,
Redakteurin des Friedensforums und wissenschaftliche Mitarbeiterin
beim Institut für Friedensarbeit
und gewaltfreie Konfliktaustragung.

 

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