Das globale Ernährungssystem befeuert die Klimakrise und ist strukturell ungerecht.

Klimagerechtigkeit braucht die Agrarwende!

Beitrag von Tim Carlo

Seit gerade einmal rund 100 Jahren vollzieht sich ein immer schneller ablaufender Prozess der Industrialisierung landwirtschaftlichen Wirtschaftens. Mit der Ausrichtung landwirtschaftlicher Produktion auf den Weltmarkt werden die angebauten Produkte nicht in erster Linie als Lebensmittel (Mittel des Lebens) betrachtet. Sie sind zu austauschbaren Waren geworden, die in globaler Konkurrenz zueinander produziert werden. Das geerntete Kilo Getreide enthält also eine bestimmte Menge Energie und ob diese nun für die menschliche Ernährung oder zum Tanken mit Biosprit verwendet wird, entscheidet der "freie Markt".

Alles andere hat sich dem Markt unterzuordnen, obwohl dessen Regeln stets die Interessen der mächtigsten Markt-Akteure begünstigen. Dadurch bleiben immer weniger Spielräume für Rücksichtnahme auf Tiere, Ökologie und die eigene Gesundheit. Es gilt das kapitalistische Paradigma: In diesem Wettbewerb kann nur bestehen, wer sich fortlaufend den Marktbedingungen anpasst und möglichst "günstig" produziert. Doch dieses ganze System ist ungerecht und aus sozial-ökologischer Perspektive alles andere als "günstig".

    Ernährungssystem
    ist zentraler Bestandteil
    der Klimakrise

Ein erheblicher Anteil des weltweiten Ausstoßes von Treibhausgasen hängt direkt oder indirekt mit unserer Art Lebensmittel zu produzieren und zu verteilen zusammen. Der Landwirtschaftssektor ist also nicht nur unmittelbar von Extremwetterereignissen wie Dürren und Überschwemmungen betroffen, sondern für dessen zunehmende Häufigkeit teilweise selbst mitverantwortlich. Wie hoch der weltweite Treibhausgas-Anteil der Landwirtschaft jedoch ist, dazu gibt es aufgrund unterschiedlicher politischer Ansätze sehr verschiedene Berechnungsergebnisse.

Der Weltklimarat (IPCC) hat erst kürzlich in einem Sonderbericht auf die wichtige Rolle der Landwirtschaft im Kampf gegen den Klimawandel hingewiesen. Da der IPCC jedoch nur die direkten landwirtschaftlichen Emissionen, sowie Folgen von Landnutzungsänderungen (zum Beispiel Umwandlung von Grünland zu Acker oder Abholzungen von Wäldern für Futtermittelanbau) berechnet, wird hier der landwirtschaftliche Anteil an den globalen Emissionen mit etwa 25% angegeben. Demgegenüber bezieht eine Studie der NGO GRAIN das gesamte Ernährungssystem in ihre Berechnung ein. Neben der unmittelbaren Produktion betrachtet sie auch die Verarbeitung, Kühlung, Müllproduktion und den Transport von Lebensmitteln. Im Ergebnis ordnet GRAIN dem Ernährungssystem somit rund 50% der weltweit verursachten Treibhausgasemissionen zu und betitelt dies in einer umfassenden Publikation als "Great Climate Robbery" (großer Klima-Raubzug).

    "Im industriellen Modell ernährt uns nicht der Boden, sondern die Verbrennung von Erdöl, Gas und Kohle."

Doch wie genau entstehen die Emissionen im Agrar-Bereich? Industrielle Landwirtschaft ist abhängig von fossiler Energie, da sie im wesentlichen auf technischen und chemischen Methoden basiert. Kurzfristig erzeugt sie damit einen unfassbar hohen Output, wird jedoch ohne den dauerhaften Input von fossiler Energie (für Düngemittel, Pestizide, Kraftstoff) diese Erträge nicht länger leisten können. Zugespitzt formuliert: Im industriellen Modell ernährt uns nicht der Boden, sondern die Verbrennung von Erdöl, Gas und Kohle. Dennoch ist der dieselbetriebene Traktor nur für einen Bruchteil der Treibhausgase verantwortlich. Ganz alltäglich entstehen weitere direkte Emissionen zum Beispiel aufgrund problematischer Bodenbearbeitung und der damit verbundenen Kohlenstoff-Freisetzung durch Humusabbau auf dem Acker. Die intensive Tierhaltung trägt durch Verdauung, Mist und Gülle einen erheblichen eigenen Anteil bei. Beispielsweise entsteht bei der Verdauung von Wiederkäuern natürlicherweise klimawirksames Methan.

Die ebenfalls hohen Lachgas- Emissionen tauchen in der Diskussion jedoch bisher eher selten auf, obwohl Lachgas (N2O) ein 300-mal stärkeres Treibhausgas als CO2 ist. Dass dieser Zusammenhang dennoch kaum bekannt ist, lässt sich zum Teil sicher damit erklären, dass der komplexe Stickstoff-Kreislauf einfach nicht so sexy klingt wie "Rinder-Pups" (übrigens wird das meiste Methan von den Kühen gerülpst und nicht gepupst!). Zum anderen aber sind Lachgas- Emissionen eine Folge von organischer und mineralischer Stickstoffdüngung, weshalb Düngemittel-Konzerne wie YARA kein Interesse daran haben, dass Lachgas in der Klimadebatte thematisiert wird.

Die Landwirtschaft bietet gleichzeitig Anlass zur Hoffnung: Bei veränderter Bodenbearbeitung und der Realisierung von umfassender Agrarökologie könnte durch Humusaufbau Kohlenstoff in den Böden gespeichert und damit sogar CO2 aus der Luft gebunden werden. Wie hoch hierbei das Potenzial ist, wird kontrovers diskutiert. Diese Perspektive sollte allerdings nicht als Argument dienen, die Bemühungen zur Emissionsreduktion zu vernachlässigen. Vielmehr sollte es doppeltes Ziel sein, Bodenschutz und Humusaufbau aktiv anzugehen und gleichzeitig fossile Brennstoffe im Boden zu lassen.

Größte Vorsicht ist geboten vor der Greenwashing-Strategie der Agrarindustrie: Mit Begriffen wie "nachhaltige Produktionssteigerung" oder "moderne Landwirtschaft" sorgen sie für gezielte Desinformation und das perfide System der "Climate Smart Agriculture" erschafft einen weiteren Markt für den Handel mit Klima-Zertifikaten und neue globale Abhängigkeiten. Ebenso wittert die Gentech-Lobby im Zuge der Klimadebatte ihre Chance, alte Argumente neu zu verpacken und versucht die Agro-Gentechnik als Lösung für aktuelle Probleme darzustellen.

Die genannten Beispiele lassen erahnen, dass noch viel Bildungsarbeit notwendig ist, um Menschen ohne landwirtschaftlichen Bezug, einen aufklärenden Überblick in diesen Fragen vermitteln zu können. Erfreulicher Weise haben viele Menschen aber auch ohne tiefere Auseinandersetzung bereits eine gewisse Vorstellung davon, wie gute Landwirtschaft laufen sollte und wie nicht.

    Koloniale Kontinuitäten
    im Ernährungssystem

Der massive Treibhausgas-Ausstoß ist bei Weitem nicht das einzige Problem unserer Ernährung. Und schon bei den Worten "unsere Ernährung" fällt mir auf, dass "wir" ja gar nicht alle sind. Mehr als 800 Millionen Menschen hungern. Laut UNICEF stirbt etwa alle 10 Sekunden ein Kind an den Folgen von Hunger. Und das obwohl der Weltagrarbericht aussagt, dass noch nie so viele Lebensmittel pro Kopf produziert wurden wie heute. An diese ungerechte Verteilung haben wir uns schleichend gewöhnt. Das aber muss verändert werden!

Schnell wird dabei klar, dass "unsere Ernährung" im globalen Norden ganz schön viel mit dieser grausamen Ungerechtigkeit zu tun hat. In den meisten Fällen liegt es nämlich nicht daran, dass irgendwo nichts wächst, sondern dass durch ungerechte Besitzverhältnisse, internationale Handelsverträge und repressive (Saatgut-)Gesetze den Menschen die Möglichkeiten zur eigenen Versorgung aktiv genommen werden. Die Strukturen zulasten der Menschen im globalen Süden sind nicht einfach so entstanden. An zahlreichen Beispielen lässt sich verdeutlichen, dass es keine freiwillige Entscheidung war, zu Rohstofflieferant*innen des industriellen Konsum-Modells des globalen Nordens zu werden. So ist uns der (Neo-)Kolonialismus sehr viel näher als wir vielleicht denken, wenn beim abendlichen Beisammensein die leckeren gesalzenen Erdnüsse auf dem Tisch stehen. Oh Nein, auch noch die Erdnüsse - was machen wir nur mit diesem Wissen? Wir könnten jetzt wieder ganz klassisch ein schlechtes Gewissen bekommen und keine Erdnüsse mehr kaufen oder aber wir nehmen dies als Anstoß und versuchen vielleicht Beziehungen in den Senegal aufzubauen, um dort Menschen zu fragen, ob sie denn in diesem Maße Erdnüsse für uns anbauen wollen.

    "Koloniale Beziehungen
    und Herrschaftsstrukturen
    durchziehen das gesamte
    Ernährungssystem."

Das Beispiel der Erdnüsse zeigt, dass Ungerechtigkeiten aus der Vergangenheit weiter nachwirken und noch längst nicht überwunden sind. Koloniale Beziehungen und Herrschaftsstrukturen durchziehen das gesamte Ernährungssystem - auf unterschiedlichen Ebenen. So haben Vertreter*innen des Öko-Feminismus bereits in den 70er Jahren auf die strukturelle Ähnlichkeit der Verhältnisse zwischen Kleinbäuer*innen und Industrie, "dritter Welt" und globalem Norden, sowie Frau und Mann hingewiesen. Ebenso sprechen sie das Verhältnis Mensch-Natur an, welches im Sinne des "weißen Mannes" koloniale Züge habe.

Dabei zieht sich jenes Muster durch, dass die lebenserhaltende Subsistenz-Arbeit meist von Frauen verrichtet und nicht entlohnt wird, obwohl sie für die eher von Männern verrichtete Lohnarbeit notwendig ist. Andersherum jedoch bräuchte der globale Süden den ausbeutenden Norden nicht und auch Subsistenz könnte allein fortbestehen, ohne dass es dafür zwingend der Lohnarbeit bedürfte. Es gehe demnach um Befreiung von aufgezwungenen Verhältnissen und eine umfassende Dekolonisierung unseres Wirtschafts- und Ernährungssystems.

Mit ihrem Entwurf der Subsistenzperspektive sprechen sich Maria Mies und Veronika Bennholdt-Thomson deshalb für eine radikale Deindustrialisierung aus. Damit greifen sie auch Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie auf und bilden eine theoretische Grundlage für feministische Ansätze, die heute wieder vermehrt unter dem Schlagwort "Care"-Arbeit ("Sorge-Arbeit") diskutiert werden.

    Bäuerlicher Widerstand
    & Ernährungssouveränität

Schon immer hat es Menschen gegeben, die sich gegen Ungerechtigkeiten auflehnten. Aus dem Willen heraus, selbst über das eigene Leben zu entscheiden, haben sich Menschen der Sklaverei widersetzt oder weigern sich beharrlich, ihre Lebensweise preiszugeben und an die Warenströme des globalen Kapitalismus zu verkaufen. Die weltweite Organisation der Kleinbäuer*innen La Via Campesina (spanisch: Der bäuerliche Weg) versammelt mittlerweile 182 Mitgliedsorganisationen in 81 verschiedenen Ländern unter ihrem Dach. Damit dürfte sie die wohl größte organisierte soziale Bewegung sein und hat erst kürzlich erreicht, dass auf UN-Ebene die Rechte von Kleinbäuer*innen und Landarbeiter*innen in einer Deklaration festgeschrieben wurden. Neben dieser institutionellen Arbeit bietet La Via Campesina vor allem Raum für transnationalen Austausch über die jeweiligen Kämpfe und vernetzt Gruppen miteinander. So fanden auch dieses Jahr am 17. April - Tag des kleinbäuerlichen Widerstands - weltweit Veranstaltungen, Feiern und Aktionen statt, um an die blutige Repression gegen die Landlosenbewegung in Brasilien vom 17.4.1996 zu erinnern.

Aus der Analyse heraus, dass Bäuer*innen und Landarbeiter*innen allein nicht in der Lage sind, die nötigen Veränderungen durchzusetzen, wurde das Konzept der Ernährungssouveränität entwickelt. Um dabei die Verbindung zu Geschlechterbefreiung und anti-kolonialen Kämpfen hervorzuheben, wurde der Name einer legendären Kleinbäuerin aus Mali Nyéléni zum Bewegungs-Namen ausgewählt. So finden seit 2007 Nyéléni-Foren statt, bei denen Delegierte aller sozialen Gruppen zusammenkommen, um über die Gestaltung eines kollektiven und gerechten Ernährungssystems ins Gespräch zu kommen.

Als emanzipatorischen Gegenentwurf zum von der Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) verfolgten Ansatz der Ernährungssicherheit, stellt das Konzept der Ernährungssouveränität die Menschen ins Zentrum, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren und verfolgt dabei das Ziel einer umfassenden Demokratisierung des Ernährungssystems.

Agrarwende jetzt!

Im deutschen Kontext sind verschiedene Akteur*innen vertreten, die diesen Wandel sehr unterschiedlich radikal auslegen. Zum einen ist da die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e.V. (AbL) als deutsche Mitgliedsorganisation von Via Campesina und Vertretung bäuerlicher Interessen - im Gegensatz zum sog. "Bauernverband", welcher die Agrarindustrie vertritt. Neben ihrer fortlaufenden Vereins- und Lobbyarbeit war die AbL sehr aktiv im Widerstand gegen Atomenergie dabei, ist Mitinitiatorin des "Wir haben es satt"-Bündnis und hat auch die Aufrufe zu den "Ende Gelände"-Aktionen stets unterstützt.

In immer mehr Städten gibt es außerdem zivilgesellschaftliche Ernährungsräte, die sich auf kommunaler Ebene für agrarökologische Veränderungen einsetzen. Und auch hierzulande gibt es eine bisher noch relativ kleine Nyéléni-Bewegung, die seit diesem Jahr auch einen regelmäßigen Newsletter herausbringt. Hervorzuheben ist, dass es Ernährungssouveränität nicht im Supermarkt zu kaufen gibt, sondern sie nur durch politische Prozesse und neue Beziehungen zwischen Produzent*innen und Konsument*innen geschaffen werden kann. Das Modell der "Community Supported Agriculture" CSA (engl.: gemeinschaftsgetragene Landwirtschaft), besser bekannt als "solidarische Landwirtschaft", ist ein praktischer Versuch dieser neuen Beziehungen: die Konsument*innen verlassen ihre passive Rolle und übernehmen gemeinschaftliche Verantwortung für die landwirtschaftliche Produktion.

Zusammenfassend lässt sich vielleicht sagen: Ernährungssouveränität ist eine Antwort auf die Unzulänglichkeiten rein individualistischer Konsumkritik und zugleich eine Kampfansage an alle (linken) Politiken, die noch immer auf die von Landwirtschaft und Menschen entkoppelten Versprechungen linearen Fortschritts setzen.

"Ernährungssouveränität gibt es nicht im Supermarkt zu kaufen - sie kann nur durch politische Prozesse und neue Beziehungen zwischen Produzent*innen und Konsument*innen geschaffen werden."

La Via Campesina ist sich seit Jahren bewusst, dass die Vision der Ernährungssouveränität auch ein entschiedenes Vorgehen gegen die Klimakrise beinhaltet. Andersherum bietet die landwirtschaftliche Perspektive konkrete Lösungsansätze für sozial-ökologische Probleme, ohne die sich Klimagerechtigkeit nicht erreichen lässt. Was es braucht, ist gegenseitiger Austausch, sowie Raum für bäuerliche und ländliche Sichtweisen innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung. Wie könnte eine utopische Lebensperspektive für Gesellschaften im ländlichen Raum aussehen? Warum gibt es bislang noch kaum Diskussionen über Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft?

Im Jahr 2013 fand parallel zum Klimacamp im Rheinland beispielsweise das europäische Treffen von "Reclaim the Fields" statt und von 2015 bis 2017 gab es im Rheinland jeweils Themenzelte, um landwirtschaftliche Inhalte sichtbarer zu machen und einen Ort für Austausch zu schaffen. Darauf lässt sich aufbauen. Die Kämpfe um Ernährungssouveränität und Klimagerechtigkeit finden wiederum als zwei Kämpfe unter vielen anderen Kämpfen statt, sie sich gegenseitig stärken und gemeinsam zu einem umfassenden Systemwandel beitragen können.

    FREE THE SOIL -
    September 2019 bei Hamburg

Seit Herbst letzten Jahres ist mit der transnationalen Kampagne "Free the Soil" eine neue Akteurin der Klimagerechtigkeitsbewegung in Europa entstanden. Erklärtes Ziel ist es, den Betrieb der Industrieanlagen des Düngemittel-Konzerns YARA mit einer Massenaktion zivilen Ungehorsams zu stören und auf die zentrale Rolle aufmerksam zu machen, die die industrielle Landwirtschaft bei der Verschärfung der Klimakrise einnimmt. Der Norwegische Staatskonzern YARA produziert u.a. in Brunsbüttel synthetischen Stickstoffdünger für den gesamten europäischen Markt. Das Verfahren ist extrem energieintensiv, weshalb der Konzern außerdem in der Erdgas- und Fracking-Lobby tätig ist und die Errichtung des ersten deutschen Flüssiggasterminals (LNG) vorantreibt, an dessen Entwicklung auch unsere alte Bekannte RWE beteiligt ist. Nebenan steht übrigens das mittlerweile abgeschaltete AKW Brunsbüttel und auch der Saatgut-, Pharma- und Chemie-Konzern Bayer/Monsanto ist vor Ort vertreten.@

https://freethesoil.org

 

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