Der katastrophaler Ausgang eines Tests für eine atomgetriebene Rakete in Russland macht ein neues globales Wettrüsten sichtbar.

atomar getrieben

von aaaRed

Am 8. August (2019) meldeten russische Behörden ein Unglück auf einem Raketen-Testgelände an der russischen Arktisküste: Beim Test eines neuartigen Triebwerks für eine Rakete sei es zu einer Explosion gekommen. Der Fernsehbeitrag eines russischen Senders zeigt eine mächtige schwarze Qualmwolke, hinter der mehrfach Feuerbälle aufsteigen. Das Gelände, auf dem Raketen für Atom-U-Boote getestet werden, liegt zwei Kilometer nördlich des Dorfes Njon­oksa und rund 30 Kilometer von der Stadt Sewerodwinsk entfernt in der Region Arch­angelsk am Weißen Meer.

Zunächst hatte das Verteidigungsministerium betont, bei dem Zwischenfall seien keine Schadstoffe ausgetreten. Im Gegensatz dazu informierte die Stadtverwaltung auf ihrer Homepage über erhöhte radioaktive Strahlung. Die Information wurde allerdings kurz danach wieder von der Seite genommen. In der Stadt Sewerodwinsk, die 190.000 Einwohner*innen hat, setzten am Freitag Panikkäufe von Jod-Präparaten ein.

Erst drei Tage später wurde der atomare Charakter des Unglücks von den Moskauer Behörden eingeräumt. Messstationen unter anderem der Internationalen Organisation zum Verbot von Kernwaffenversuchen hatten zuvor die Freisetzung radioaktiver Substanzen registriert. Der örtliche Katastrophenschutz teilte mit, dass in Sewerodwinsk am 8. August vier bis 16 Mal höhere radioaktive Werte als gewöhnlich gemessen wurden. Die atomare Verstrahlung habe kurzzeitig bei 2,0 Mikrosievert gelegen. Es wurde über eine Evakuierung des Dorfes Njonoksa nachgedacht. Damit gab die Behörde zu, was bereits angenommen geworden war: Nach Angaben des Atomphysikers Andrej Ozharowskij von der Organisation "Russische sozial-ökologische Union" entstand über dem Testgelände eine radioaktive Wolke. Sie sei mit dem Westwind in Richtung Sewerodwinsk getrieben worden.

Was war das für eine Rakete, die dort getestet wurde?

Als Antwort auf diese Frage gibt es bislang keine klaren Aussagen, sondern lediglich Vermutungen, die sich auf zum Teil widersprüchliche und kryptische Mitteilungen stützen sowie auf die Begleitumstände der Havarie.

In einer Pressemitteilung erklärte die Atombehörde Rosatom, wissenschaftliche Mitarbeiter seien damit beauftragt gewesen, eine "isotopische Energiequelle für einen mit flüssigem Brennstoff betriebenen Raketenantrieb" zu betreiben, die auf der Plattform getestet wurde. "Die Raketentests wurden auf der Offshore-Plattform durchgeführt", heißt es in einer Erklärung von Rosatom. "Nach Abschluss der Tests wurde der Raketentreibstoff gezündet, gefolgt von der Detonation." 2 Militärangestellte und 5 Wissenschaftler von Rosatom aus dem ‚Allrussischen Forschungsinstitut für experimentelle Physik in Sarow‘ wurden dabei ins Meer geschleudert und getötet. Der Direktor des Atomforschungszentrums in Sarow, Wjatscheslaw Solowjow, erläuterte dazu im Fernsehinterview, das Institut forsche an "kleinformatigen Energiequellen unter Nutzung spaltbaren Materials".

Bei der Explosion habe es sich um eine atomgetriebene Rakete gehandelt, möglicherweise vom Typ 9M730 "Burewestnik" (Sturmvogel). Diese Einschätzung veröffentlicht der Atomwaffenexperte Jeffrey Lewis vom Middlebury Institute for International Studies und stützt sie auf langjährige Beobachtungen militärischer Anlagen unter anderem durch Satelittenbilder.

Diese Darstellung fordert das russische Verteidigungsministerium zu einer Erwiderung heraus: Mit dem Marschflugkörper "Burewestnik" habe der Unfall am 8. August nichts zu tun. Getestet wurde demnach ein ‚Raketenbooster‘, also ein Modul, wie es bei einer Weltraumrakete als erste Stufe für den anfänglichen Anschub eingesetzt wird. Bei dem Antrieb kämen atomare Stromerzeuger zum Einsatz, schreibt die Zeitung "Iswestija" mit Verweis auf das Ministerium.

Was auf dem Testgelände Njonoksa westlich der Stadt Sewerodwinsk am 8. August getestet wurde, sei kein Marschflugkörper gewesen, versichert das russische Verteidigungsministerium, sondern ein neuartiger Raketenantrieb: ein flüssigkeitsbefeuertes Strahltriebwerk. Es sei die erste Erprobung des Boosters auf einem Testgelände gewesen.

Bei diesem neuen Anschubmodul würden "Atom-Batterien" verwendet. Zum Einsatz kämen sogenannte Nukleare thermoenergische Generatoren. Diese ersetzten bei dem Booster die herkömmliche Strombatterie. Die Verwendung dieser Technik vereinfache die Wartung und vergünstige den Betrieb des Triebwerks.

Eigentlicher Zweck der Atom-Batterien sei es, die Energie für einen Lichtbogen bereitzustellen, mit dem der Treibstoff des Boosters gezündet wird. Der Treibstoff werde in der Brennkammer des Triebwerks mit einem Oxidationsmittel vermischt und durch den Lichtbogen gezündet. So werde Schubkraft freigesetzt, die für die Beschleunigung der Rakete benötigt wird.

Ein Flüssigkeitstriebwerk sei im Aufbau komplizierter als ein Feststofftriebwerk – aber: "Die freigesetzte Energie ist bei einem Flüssigkeitsantrieb deutlich größer. Die Rakete beschleunigt schneller und erreicht höhere Geschwindigkeiten", sagt Militärexperte Dmitri Boltenkow im Zeitungsgespräch mit Iswestija. "Der Nachteil dieses Antriebs ist die Gefahrenstufe: Der Treibstoff und der Oxidans sind aggressiv und explosiv. Für Menschen lebensgefährlich, es kann auch zu Vergiftungen kommen."

Die gesundheitlichen Folgen der Explosion von Njonoksa scheinen gravierend zu sein: die Verletzten, die es neben den sieben Getöteten gab, wurden unbekleidet und in Plastikfolie eingewickelt nach Archangelsk ins Klinikum gebracht. Und das Personal, das dort mit ihnen in Berührung kam, wurde anschließend nach Moskau geflogen, wo Ärzte ebenso wie Pfleger zur Untersuchung kamen und eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen mussten.

Ob es sich bei dem Test am 8. August nun um einen ganzen Marschflugkörper oder lediglich um ein Anschub-Modul für eine solche Cruise-Missile gehandelt hat, bleibt unklar. So oder so sollte die Havarie doch die Aufmerksamkeit wecken: es wird emsig gearbeitet an immer neuen Methoden, nukleare Vernichtung ans Ziel zu bringen.

Zur Erinnerung: Präsident Wladimir Putin hatte bei seiner Rede zur Lage der Nation im März 2018 eine neue Generation von Marschflugkörpern angekündigt, unter anderem eine Drohne namens ‚Sturmvogel‘, auf russisch ‚Burewestnik‘:

bestückt mit Atomsprengköpfen habe sie dank eines Nuklearantriebs praktisch unbeschränkte Reichweite. Eine Animation sollte dies unterstreichen. Sie zeigte einen Flugkörper, der nach dem Start im Nordpolarmeer feindliche Raketenschutzschirme umkurvt, einen weiten Bogen um Kap Horn macht und schließlich zwischen Hawaii und der amerikanischen Westküste einschlägt.

Skyfall oder Burewestnik

"Skyfall" ist die Bezeichnung der Nato-Geheimdienste für eine der modernsten Waffen Russlands - eine Riesendrohne, auch Cruise Missile genannt, die nicht nur einen Atomsprengkopf tragen kann, sondern auch mit Atomantrieb funktioniert. Bei der NATO wird sie als SSC-X-9 Skyfall bezeichnet.

Burewestnik soll einen Mini-Nuklearantrieb besitzen, basierend auf Radionuklidbatterien und dadurch eine fast uneingeschränkte Reichweite haben. Nach russischen Angaben soll er mehrfach um den Planeten fliegen und den potenziellen Gegner aus einer unerwarteten Himmelsrichtung erreichen können. Zu den weiteren Eigenschaften von Burewestnik zählt nach Aussage von russischen Militärs seine Manövrierfähigkeit und seine niedrige Flughöhe, weswegen er für feindliche Raketenabwehrsysteme kaum erkennbar und erst recht nicht zerstörbar sei.

Die Entwicklung der Rakete begann nach dem US-Austritt aus dem ABM-Vertrag im Dezember 2001 und als Antwort auf den von den USA vorangetriebenen Aufbau eines globalen Raketenabwehrsystems, das aus russischer Sicht eine Störung des nuklearen Gleichgewichts darstellt und so als eine Bedrohung für Russland angesehen wird.

Die schätzungsweise zehn Meter lange Cruise Missile Skyfall, die bei den russischen Militärs 9M730 Burewestnik heißt, ist eine von zwei neuen Drohnenmodellen mit Atomantrieb, über die Moskau verfügt. Neben dem Skyfall-Modell für den Angriff aus der Luft wird auch ein atomangetriebener Riesentorpedo mit 24 Meter Länge für Angriffe unter Wasser entwickelt, der den Namen Poseidon trägt und in der Nato als Kanyon bezeichnet wird. Mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 Knoten, also rund 110 km/h, könnte er in ein paar Tagen vom Nordpolarmeer aus die amerikanische Ostküste erreichen. Experten wie Jeffrey Lewis halten es für wahrscheinlich, dass das "Skyfall"-Modell und nicht der Unterwassertorpedo an dem Unglück beteiligt war.

Dabei ist öffentlich nicht bekannt, nach welchem Prinzip das atomar angetriebene Turbinentriebwerk genau funktioniert. Wahrscheinlich bringt ein Raketenantrieb (Booster) die Lenkwaffe zunächst nahe an die Schallgeschwindigkeit. Die in das Triebwerk einströmende Luft könnte dann direkt durch kleine Bohrungen durch den Kernreaktor geleitet und so erhitzt werden. Eine andere Variante wäre ein Wärmetauscher.

Sollte die Luft direkt durch den Kernreaktor strömen, würde die Cruise Missile eine Spur radioaktiv verseuchter Luft auf ihrer Flugbahn hinterlassen. Vereinfacht gesprochen würde eine solcher Marschflugkörper über das Land fliegen mit einem "radiologisch massiv verseuchten Abgasstrahl".

Russland könnte bei der Entwicklung ihres Cruise-Missile-Atomantriebs auf ihre jahrzehntelangen Erfahrungen mit kleinen Atomreaktoren (Topaz II) in Satelliten zurückgreifen, die dort zur Stromversorgung eingesetzt werden. Die Leistungen der Atomreaktoren könnten inzwischen um das 40-Fache auf mehr als fünf Megawatt gesteigert worden sein, bis zu 3,5 Tonnen wiegen und 1,5 Meter lang sein. Das Funktionsprinzip soll auf der hohen Wärmeleistung des Atomreaktors zum Antrieb eines Turbojet-Triebwerks beruhen.

Angeblich wurden bereits über ein Dutzend Testflüge absolviert, wobei allerdings unklar ist, ob der Atomantrieb dabei bereits voll zum Einsatz kam.

    Auch die USA arbeiten
    an ähnlicher Technologie

Auf den ersten Blick erscheint die Idee einer Riesendrohne mit Atomantrieb revolutionär neu. Tatsächlich gab es aber bereits während des Kalten Krieges ein noch viel ambitionierteres Projekt - geplant allerdings nicht von der damaligen Sowjetunion, sondern in den USA. Unter dem Projektnamen SLAM (Supersonic Low Altitude Missile) oder auch Pluto entwickelte der damalige amerikanische Flugzeughersteller Vought eine Riesendrohne mit fast 27 Meter Länge und 1,5 Meter Durchmesser. Sie sollte 27,5 Tonnen schwer sein und über vierfache Schallgeschwindigkeit erreichen.

Die Drohne sollte in 300 Meter Höhe 21.300 Kilometer weit fliegen und in 9000 Meter Höhe sogar 182.000 Kilometer Reichweite erreichen, also mehrmals die Erde umrunden oder sehr lange über einem Zielgebiet kreisen können. Die Besonderheit: An Bord sollten sich bis zu 26 kleine Atombomben befinden.

Ähnlich wie jetzt bei den Russen sollte ein Nuklear-Staustrahltriebwerk für den Antrieb sorgen. Trotz erster erfolgreicher Tests wurde das Projekt jedoch im Juli 1964 nach sechseinhalb Jahren gestoppt, und die USA beschlossen, verstärkt auf Interkontinentalraketen zu setzen. Dabei waren bei der Entwicklung bereits erste Erfolge verzeichnet worden. Das weltweit erste nukleare Staustrahltriebwerk Tory-IIA lief in einem Test im Mai 1961 für ein paar Sekunden. 1964 erreichte dann ein weiterentwickelter Triebwerkstyp fast fünf Minuten Laufleistung.

Nach der Explosion in Nyonoska hat sich US-Präsident Donald Trump per Twitter eingeschaltet - und dabei womöglich ein kleines Geheimnis preisgegeben. "Die Vereinigten Staaten lernen viel von der gescheiterten Raketenexplosion in Russland", schrieb er und merkte an: "Wir haben eine ähnliche, wenn auch fortgeschrittenere Technologie."

Ein neues Wettrüsten

Die USA und Russland scheinen in ein neues Wettrüsten zu geraten. Die Nuclear Posture Review 2018 der Trump-Administration spricht von der Rückkehr des Großmachtwettbewerbs und fordert eine umfassende Modernisierung des Atomarsenals der Vereinigten Staaten. Russland investiert Milliarden Rubel in seine eigene Modernisierung und entwickelt eine Vielzahl bizarrer Waffen – einschließlich dieser nuklear angetriebenen Marschflugkörper –, um die US-Raketenabwehr zu besiegen.

In der geschlossenen Stadt Sarow, wo Russlands Atomwaffen entwickelt werden, gedachte man am 12. August der bei dem Test getöteten Wissenschafter. Alexej Likatschew, der Chef des Atomkonzerns Rosatom, hielt eine Ansprache, in der er die Verstorbenen als "Stolz Russlands" bezeichnete, dann wurden Salutschüsse abgefeuert. Wjatscheslaw Solowjow , der Chef des Atomforschungszentrums in Sarow verglich dabei die eigene Arbeit an kleinen atomaren Energiequellen mit ähnlichen Projekten in den Vereinigten Staaten, nämlich dem Projekt Kilopower der Nasa. Die in Njonoksa eingesetzten Mitarbeiter hätten heldenhaft versucht, Schlimmeres zu verhindern.

Sergej Kirijenko - Ex-Chef der russischen Atomindustrie und jetzt als Vizechef der Kreml-Verwaltung einer der mächtigsten Männer Russlands - sagte, Wladimir Putin habe sie bereits für staatliche Auszeichnungen vorgeschlagen. In einem Jahr soll ein Denkmal für die Toten eröffnet werden. "Die Fähigkeit, eine Großmacht zu sein, wird auch mit Opfern errungen", sagte der Regionalgouverneur Gleb Nikitin.@



    Etwa zwei Kilometer nördlich von Njonoksa, nahe der Siedlung Sopka, befindet sich ein Truppenübungsplatz (64.651, 39.175) zum Test von U-Boot-gestützten ballistischen Raketen für Atom-U-Boote. Seit den 1960er Jahren wurden hier unter anderem Prototypen der Raketen R-29 und R-39 (Rakete) getestet.
Quellen:
  • l´essentiel
  • Iswestija
  • wikipedia
  • foreignpolicy.com
  • swr.de/swr2
  • Spektrum.de
 

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