Triebkräfte des aktuellen Globalisierungsprozesses 

Neoliberale Globalisierung

von Werner Heinz

Globalisierung ist nichts Neues. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess, der auf eine lange Geschichte zurückblickt. Für die einen setzt dieser mit den Handelsbeziehungen und militärischen Eroberungszügen vorderasiatischer und ägyptischer Hochkulturen ein. Für andere ist "Globalisierung … von Anfang an ein integraler Bestand der kapitalistischen Entwicklung" und "der Globalisierungsprozeß des Kapitalismus … sicherlich seit 1492 … im Gange" (1). Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Globalisierung – wenn auch unter anderen Begriffen wie Weltmarkt und Imperialismus – einen Entwicklungsstand erreicht, der dem heutigen vergleichbar ist. Globalisierung war auf dieser Entwicklungsstufe allerdings weitgehend auf zwei Bereiche beschränkt: Handel und "Freizügigkeit der Arbeitskräfte in Form von massenhaften Migrationen" (2).

Die aktuelle Stufe der Globalisierung ist nicht auf einzelne Bereiche wie Handel, Kultur oder militärische Eroberungen begrenzt, sondern mit einer tiefgreifenden, Wirtschaft und Finanzen, öffentliche und private Akteure, räumliche wie soziale Strukturen erfassenden Transformation verbunden. Mit dieser den gesamten Globus erfassenden Unterwerfung unter die Maximen optimaler Kapitalverwertung sind die von Marx für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft genannten Merkmale "fortwährende Umwälzung der Produktion ….ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, … ewige Unsicherheit und Bewegung" (3) Realität geworden.

Die neoliberale Form der Globalisierung gilt als "die entscheidende Strategie des Kapitals zur Lösung der" in den 1970er Jahren immer deutlicher werdenden "Fordismus-Krise"4. Die Produktivitätsreserven und Profitmöglichkeiten des für diese Formation der kapitalistischen Wirtschaftsweise konstitutiven Produktionsprozesses waren an ihre Grenzen gestoßen, die vorhandenen politisch-administrativen Strukturen und Regularien wurden zunehmend als Barrieren für die Dynamik des wirtschaftlichen Entwicklungs- und Verwertungsprozesses empfunden.

Zur Bekämpfung der Fordismus-Krise erschien es erforderlich, neue Märkte, Räume und Profitquellen zu erschließen sowie vorhandene nationale wie internationale Barrieren und Grenzen im Sinne eines von beengenden Schranken weitgehend befreiten "entfesselten" Kapitalismus abzubauen. Die in diesem Kontext realisierten Strategien umfassen die Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs durch den Abbau von Zöllen und anderen Handelsbarrieren; eine fortschreitende Deregulierung sowohl im öffentlichen als auch im Wirtschafts- und Finanzsektor durch den Abbau staatlicher Steuerungsinstrumente und Eingriffsrechte einerseits, durch die Abschaffung betrieblicher Verträge und Vereinbarungen andererseits; eine zunehmende Teil- oder Vollprivatisierung bisher öffentlich erbrachter Aufgaben und Leistungen sowie eine anhaltende Flexibilisierung von Produktionsprozessen und Beschäftigungsverhältnissen. Als theoretisch – ideologische Grundlage dienten die auf die Vorrangstellung des Marktes und seiner Kräfte setzenden Vorstellungen des Neoliberalismus.

Entscheidende Weichenstellungen zur Durchsetzung dieser Strategien waren zunächst die als "Reagonomics" und "Thatcherism" in die Geschichte eingegangenen, stark neoliberal geprägten Politiken der U.S.A. und Großbritanniens in der 1970er- und 1980er-Jahren; die durch die Regierung Thatcher vorgenommene Öffnung der Londoner Wertpapierbörse für ausländische Kapitalanleger sowie die auf eine weltweite Durchsetzung der finanzwirtschaftlichen Verhältnisse der Industrieländer zielenden Aktivitäten und Programme der internationalen Finanzinstitutionen IWF und Weltbank. Maßgebliche Schritte auf europäischer und deutscher Ebene im Sinne einer marktkonformen Umstrukturierung einer steigenden Zahl von Lebens- und Politikbereichen waren die Institutionalisierung der Europäischen Union und die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraumes mit dem Maastricht-Vertrag von 1993 sowie die auf eine Reform des Arbeitsmarktes und einen Abbau des Sozialstaates setzenden und mit der "Agenda 2010" realisierten Politiken der deutschen Bundesregierung.

Ermöglicht und beschleunigt wurde der neoliberale Krisenbewältigungsprozess durch einen umfassenden, mit Computerisierung und Digitalisierung umschriebenen technologischen Innovationsschub in den Bereichen der Mikroelektronik und Telekommunikation, der die "Instrumente" zur Umsetzung der erforderlichen Programme und Politiken bereitstellte. Das explosionsartige Wachstum und die tendenzielle Verselbständigung der deregulierten und liberalisierten Finanzmärkte sind ohne die vielfältigen Innovationen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien nicht denkbar. Im Produktionsbereich haben technologische Innovationen neue Formen der Produktion und Arbeitsorganisation wie auch die Realisierung transnationaler Produktions- und Fertigungsstrukturen ermöglicht. Und im Transportbereich waren der Ausbau des Containerwesens, innovative Transporttechnologien und Logistikkonzepte sowie damit sinkende Transportkosten Grundlage für eine enorme Beschleunigung und weltweite Ausdehnung des Gütertransports.

Ab den späten 1980er-Jahren kamen drei weitere, den Prozess der Globalisierung zusätzlich beschleunigende und seinen Einflussbereich stark vergrößernde geopolitische Veränderungen hinzu. Eine besondere Rolle spielte der durch den Fall der Mauer in Berlin 1989 eingeleiteten Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Bündnisstaaten. Bereits 1991 war bis auf die Ausnahme von Nordkorea und Kuba der gesamte ehemalige sowjetische Einflussbereich in den Weltmarkt integriert. Eine dramatische Beschleunigung erfuhr in den 1990er Jahren auch die bereits in den 1980er-Jahren eingeleitete schrittweise Öffnung der Volksrepublik China für den Weltmarkt. 2002 trat China der WTO bei. Inzwischen hat sich das Land zu einem der größten Exporteure der Welt entwickelt. Die dritte wichtige geopolitische Veränderung vollzog sich auf dem indischen Subkontinent mit der sukzessiven Transformation der bis dahin planwirtschaftlich organisierten Wirtschaftspolitik. Auslöser und Grundlage waren massive Wirtschafts- und Finanzprobleme in den 1970er- und 1980er-Jahren und ein in den 1990er-Jahren vom Internationalen Währungsfonds (IWF) vorgelegter Strukturanpassungsplan.

    Zentrale Auswirkungen

Zu den maßgeblichen Kennzeichen der aktuellen Globalisierung zählen die Durchdringung von immer mehr Räumen, Ebenen – so auch der kommunalen – und Bereichen durch die Dynamik der Kapitalverwertung, ein damit einhergehender massiver Strukturwandel, eine zunehmende Vernetzung im Weltmaßstab sowie eine signifikante Beschleunigung des Transports von Gütern, Finanzen und Informationen.

Am spektakulärsten war die explosionsartige Zunahme von Transaktionen auf den internationalen Finanzmärkten, die sich mit der in den 1970er-Jahren einsetzenden Deregulierung und Liberalisierung des Kapitalverkehrs immer mehr von der Realwirtschaft absetzen und verselbständigen konnten. Die globalen Finanztransaktionen expandieren inzwischen um ein Vielfaches schneller als Weltproduktion und Welthandel. Eine maßgebliche Ursache für diese Entwicklung sieht Jörg Huffschmid in der tendenziellen Funktionsverschiebung moderner Finanzmärkte: von ihrer ursprünglichen Finanzierungsfunktion in Richtung Handel mit bereits bestehenden Finanztiteln wie Aktien oder Anleihen, zum Teil auch Krediten und einer Vielzahl hieraus abgeleiteter Finanzinstrumente5. Die Geschwindigkeit dieses, immer größere, z. T. hoch spekulative und vielfach verschachtelte Finanztitel umfassenden computergestützten Handels, der kurz nach der Jahrtausendwende bereits neun Zehntel aller Aktivitäten auf den Finanzmärkten ausmachte, nimmt stetig zu.

Signifikante Veränderungen weist auch der Produktionsbereich auf. Davon betroffen sind sowohl Unternehmensgröße und -strukturen als auch Produktionsprozesse und Produktionsverfahren wie auch Unternehmensziele. Zusammenschlüsse oder Übernahmen bestehender Unternehmen (Merger- und Akquisitionsprozesse) ließen die Zahl transnationaler Unternehmen von etwa 35 000 zu Beginn der 1990er-Jahre auf mehr als 82 000 im Jahre 20086 ansteigen. Der Zentralisierung unternehmerischer Macht stehen gleichzeitig "die geographische Streuung und Fragmentierung des Produktionssystems"7 gegenüber. Auf der Grundlage technologischer Innovationen, relativ sinkender Transportkosten und der Liberalisierung der Märkte sind neue, transnational organisierte Wertschöpfungsketten entstanden, die dadurch gekennzeichnet sind, dass unterschiedliche Produktkomponenten an den jeweils kostengünstigsten Standorten hergestellt werden.

Viele Unternehmen haben auf die Krise des Fordismus auch mit tiefgreifenden, der Produktivitätssteigerung dienenden und auf mikroelektronischen Innovationen basierenden Rationalisierungs- und Effektivierungsprozessen reagiert: von der Neuorganisation und immer stärkeren Automatisierung der Massenproduktion bis zu neuen Formen der Arbeitsorganisation und Arbeitszeitflexibilisierung zur Sicherung eines kontinuierlichen Produktionsrhythmus.

Verändert hat sich auch die internationale Arbeitsteilung. Von einer weltweiten Einebnung kann zwar keine Rede sein, die Ausbeutung von Arbeitskräften und natürlichen Ressourcen im Sinne der Industriestaaten hält in vielen Industrieländern weiter an. Weitreichende technische Fortschritte in Schwellenländern wie China und Indien haben jedoch dazu beigetragen, dass die weltwirtschaftliche Dominanz von Europa und den U.S.A. sukzessive an Gültigkeit verliert. China und Indien sind nicht mehr nur Empfänger umfangreicher ausländischer Direktinvestitionen, sie sind auch starke Akteure in der Weltwirtschaft geworden. Große Konzerne der beiden Staaten verfolgen ebenso wie ihre europäischen und U.S.-amerikanischen Gegenspieler weltweite, die bisherigen Kernräume der Globalisierung einbeziehende Anlagestrategien.

Der Welthandel hat sich gleichfalls globalisiert. Sein Volumen ist "in den vergangenen 60 Jahren um mehr als das 20-Fache gewachsen"8. Das Besondere sind allerdings weniger seine quantitativen Zuwachsraten als seine strukturelle Veränderung – der "klassische" Außenhandel mit Waren wird zunehmend durch den Handel mit Dienstleistungen ergänzt – sowie eine zweifache Konzentration: zum einen auf bestimmte Akteure – drei Viertel des Welthandels werden von transnationalen Unternehmen abgewickelt9 – und zum anderen auf nur wenige Weltregionen. 2013 entfielen 85 Prozent der globalen Warenexporte auf die Staaten der sogenannten Triade aus Nordamerikanischer Freihandelszone (NAFTA), Europäischer Union (EU) und südostasiatisch-pazifischem Raum und dort wiederum auf nur eine kleine Zahl von Nationalstaaten.

Verändert haben sich auch Rolle und Kompetenzen der Nationalstaaten: im Zuge eines Transformationsprozesses, der zur Herausbildung "eines neuen Typus des kapitalistischen Staates"10 führte. Vorrangiges Ziel dieses "nationalen Wettbewerbsstaates" ist es, "einem global immer flexibler agierenden Kapital in Konkurrenz mit anderen Staaten günstige Verwertungsvoraussetzungen zu schaffen"11: durch den Ausbau direkter und indirekter öffentlicher Subventionen für die Wirtschaft, den gleichzeitigen Um- und Abbau sozialstaatlicher Regelungen und die wachsende Einbindung relevanter – demokratisch nicht legitimierter – Akteure und Organisationen aus Wirtschaft und Gesellschaft in die Definition und Umsetzung staatlicher Politiken.

Der mit einer zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung einhergehende Prozess der neoliberalen Globalisierung hat allerdings nicht oder nur in Ausnahmefällen zu einem Abbau sozioökonomischer Disparitäten und Unterschiede geführt, sondern vielfach zu einer weiteren Verschärfung: sowohl im kleinräumigen als auch im großräumigen Kontext. Dazu beigetragen haben zum einen die renditeorientierten Aktivitäten global agierender Unternehmen und zum anderen die Politiken und Programme der wirtschaftsstarken westlichen Industrienationen und der von ihnen maßgeblich beeinflussten Finanzinstitutionen. Hauptbetroffene dieser disparitären Entwicklungen sind vor allem Staaten in Afrika und Lateinamerika. Die wesentlichen, den gegenwärtigen Globalisierungsprozess kennzeichnenden Erfolgsmerkmale und Entwicklungstrends konzentrieren sich auf nur einen begrenzten Teil der Welt: die bereits genannte Triade aus Nordamerikanischer Freihandelszone, Europäischer Union und südostasiatisch-pazifischem Raum. Diese Staaten sind Standorte der Weltfinanzmärkte und der größten multinationalen Unternehmen, in ihnen liegen die Ziel- und Herkunftsregionen transnationaler Direktinvestitionen, die Zentren des globalen Schiffs- und Flugverkehrs, die globalen High-Tech- und Medienzentren wie auch die wirtschaftstärksten Ballungsräume der Welt.

Disparitäre Entwicklungen haben allerdings nicht nur auf globaler, sondern auch auf kleinräumiger, d.h. innerstaatlicher Ebene deutlich zugenommen. Dies gilt nicht nur für benachteiligte Entwicklungsländer, sondern auch für westliche Industrieländer wie Deutschland, Großbritannien und Italien sowie Globalisierungsgewinner wie China und Indien mit zunehmenden Tendenzen der sozioökonomischen und räumlichen Spaltung.@


David Harvey, Betreff Globalisierung,
in: Steffen Becker, Thomas Sablowski,
Wilhelm Schumm (Hrsg.), Jenseits der
Nationalökonomie, Hamburg 1997, S.29.
Eric Hobsbawn,
Gesicht des 21. Jahrhunderts, S. 82.
Karl Marx und Friedrich Engels,
Manifest der Kommunistischen Partei, S.15.
Joachim Hirsch, Vom Sicherheits-
zum nationalen Wettbewerbsstaat,
Berlin 1998, S.22.
Vgl. Jörg Huffschmid, Finanzmärkte,
Globalisierung und alternative
Wirtschaftspolitik, Vortragsmanuskript,
Bremen 2003, S.2.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.),
Globalisierung, Zahlen und Fakten,
Anzahl transnationaler Unternehmen,
in: bpb.de vom 11.10.2008.
David Harvey, a.a.O., S.39.
Stefan Sauer, Der Kuchen
und seine Verteilung, in:
Frankfurter Rundschau vom 25.3.2014.
Friedhelm Hengsbach, "Globalisierung" –
Eine wirtschaftsethische Reflexion, in:
Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 33-34/ 2000.
Joachim Hirsch, a.a.O., S.33.
Ebenda, S.103.
externer Link http://theorieblog.attac.de/2017/01/neoliberale-globalisierung/ 16.1ö.17

 

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