Von "Kohleausstieg ist Handarbeit" zu globaler Klimagerechtigkeit und radikalem Systemwandel Von Dorothee Häußermann und Laura Wollny

System Change not Climate Change

von Dorothee Häußermann und Laura Wollny

In der linken anti-Kohle-Bewegung, die sich als Teil der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung versteht, gibt es zwei zentrale Forderungen, die miteinander verwoben sind. Zum einen ist es der Ruf nach radikalem Systemwandel, der im beliebten Slogan "System Change not Climate Change!" (Systemwandel statt Klimawandel) zum Ausdruck kommt. Zum anderen ist es die Forderung, diesen Wandel selbst zu gestalten und ihn nicht der Politik zu überlassen, was in dem Ruf "Kohleausstieg ist Handarbeit" deutlich wird.

    Entstehung der Bewegung

In Deutschland entstand der linke Strang der anti-Kohle-Bewegung in der Auseinandersetzung mit dem Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen 2009. Nach der groß angelegten Mobilisierung nach Kopenhagen im Vorfeld des Gipfels waren viele Aktivist*innen frustriert: nicht nur vom politischen Scheitern der Verhandlungen und der brutalen Polizeigewalt während der Gipfelproteste, sondern auch von der Strategie, auf die Gipfeltreffen als Ort der politischen Entscheidung zu setzen. Diejenigen in Europa, die trotz allem weiter gegen Klimawandel und für Klimagerechtigkeit arbeiten wollten, setzten ihren Fokus nun vermehrt auf die Stärkung von lokalem und direktem physischem Widerstand. Hier bietet der Kampf gegen die Kohle und insbesondere die Braunkohle einen konkreten Ansatzpunkt, der die beiden zentralen Forderungen – Systemwandel und "Handarbeit" – verknüpft.

    Warum Braunkohle?

Braunkohle ist ein extrem klimaschädlicher Energieträger, der bei der Verbrennung mehr CO2 freisetzt als jede andere fossile Ressource. Die Braunkohlekraftwerke Neurath, Niederaußem und Weisweiler im Rheinland sowie Jänschwalde in der Lausitz gehören zu den fünf größten CO2-Emittenten in der EU (vgl. Jones 2015). Sie tragen also erheblich zur globalen Erwärmung bei, deren Konsequenzen – Dürren, Unwetter, Ernteverluste – bislang vor allem in Regionen des globalen Südens zu spüren sind.

Braunkohle wird in Tagebauen gefördert. Die drei Abbaugebiete in Deutschland sind das rheinische Revier bei Köln, das sogenannte mitteldeutsche Revier bei Leipzig und das Lausitzer Revier an der Grenze zu Polen. Der Tagebaubetrieb hat verheerende Folgen für lokale Ökosysteme und Kulturlandschaften. Wälder und Ackerland werden zerstört, ganze Dorfgemeinschaften werden umgesiedelt. Die Vegetation in den umliegenden Gebieten leidet unter dem absinkenden Grundwasserspiegel, denn Wasser wird in großem Stil abgepumpt, damit die mehrere hundert Meter tiefen Tagebaue trocken bleiben. Die anti-Kohle-Bewegung will den Abbau sowie die Verstromung von Braunkohle vor Ort stoppen; damit leistet sie einen Beitrag zur Erhaltung der Natur und Lebensqualität in den Revieren, aber auch zur globalen Klimagerechtigkeit. Braunkohle-Infrastruktur liefert als konkretes Feindbild und fotogene Kulisse spannende Interventionsmöglichkeiten für direkte Aktionen. Die strategische Reduktion auf einen konkreten und praktischen Ansatzpunkt zieht aktionserfahrene Menschen an, wobei an die Widerstandstradition der anti-Atom-Bewegung angeknüpft werden kann. So wurden die Braunkohlereviere zum Aktionsfeld kapitalismuskritischer, aktionsorientierter Klimaaktivist* innen, die sich vor allem auf Klimacamps und bei der Waldbesetzung im Hambacher Forst zusammenfinden.

    Warum Handarbeit?

CO2 ist nicht Ursache, sondern Symptom eines Problems. Treibende Kraft hinter dem exzessiven Ressourcenverbrauch ist ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, das auf Gewinnmaximierung und der stetig wachsenden Ausbeutung von Mensch und Natur basiert. Darum können die Instrumente der UN-Klimaverhandlungen die globale Erwärmung nicht aufhalten, da sie innerhalb derselben Marktlogik und innerhalb derselben Machtverhältnisse operieren, die die sozialen und ökologischen Krisen hervorgebracht haben. Berüchtigtes Beispiel für eine marktbasierte Klimaschutzmaßnahme ist der "Clean Development Mechanism" (CDM). Damit können Unternehmen in Industrieländern ihre Emissionen ausgleichen, indem sie Emissionsrechte von "grünen" Projekten im globalen Süden einkaufen, die CO2 einsparen. Das kann ein Wasserkraftwerk sein, eine Monokultur-Plantage mit Energiepflanzen oder auch ein "sauberes" Kohlekraftwerk. Die "Einsparung" wird aus dem Vergleich mit dem Normalszenario errechnet, das als CO2-intensiver angenommen wird als eine Zukunft mit dem Offset-Projekt (= Kompensationsprojekt) (vgl. Gilbertson u. a. 2009). Abgesehen davon, dass dies zu keiner absoluten Emissionsreduktion führen kann, handelt es sich bei CDM-Projekten häufig um Mega-Anlagen, die ohne Absprache mit der lokalen Bevölkerung geplant werden und dieser weder Elektrizität noch Arbeitsplätze bringen. Oft führen sie sogar dazu, dass Menschen aus ihren Dörfern vertrieben werden oder unter gesundheitlichen Belastungen leiden. Kritische Stimmen sehen in marktbasierten Klimaschutzmaßnahmen die Fortführung einer neokolonialen Politik unter grünem Vorzeichen.

Große Teile der linken anti-Kohle-Bewegung setzen keinerlei Hoffnung auf den UN-Prozess. Sie kritisieren den herrschenden Diskurs zur Energiewende, da er sich zu sehr auf technologische Innovationen fokussiert – wie den Ausbau erneuerbarer Energien oder Maßnahmen zur Steigerung der Energieefzienz –, doch die Frage vernachlässigt, wie Lebens- und Produktionsweisen ressourcenschonender organisiert werden können. Am Beispiel der Braunkohlereviere wird deutlich, wie eng die Frage der Energieversorgung mit Machtverhältnissen verknüpft ist. Braunkohle wird industriell von großen Firmen abgebaut und zur Stromerzeugung verbrannt. Die Energieriesen RWE und Vattenfall genießen dabei eine Monopolstellung. Teile des öffentlichen Lebens der Kommunen werden durch Steuerabgaben der Konzerne, durch Dividenden oder durch direkte Spenden an Schützenvereine, Sportveranstaltungen etc. finanziert. RWE ist im Rheinland dicht mit der Politik verfilzt. Durch diese Verflechtungen wird der Übergang zu einer alternativen Energieversorgung behindert.

Aufgrund der Kritik an den bestehenden Lösungsansätzen liegt der Schwerpunkt von anti-Kohle-Gruppen wie ausgeCO2hlt nicht auf Appellen an die parlamentarische Politik, sondern auf dem Aufbau einer sozialen Bewegung, in der sich Menschen dazu befähigen, selbst politische Wirklichkeit zu schaffen. Durch kollektive Selbstorganisation, zum Beispiel auf Klimacamps, können Menschen ihre Vereinzelung und ihr Ohnmachtsgefühl überwinden und gemeinsam am Systemwandel arbeiten. Dies geschieht einerseits durch direkten Widerstand gegen zerstörerische industrielle Abläufe, anderseits durch den Aufbau von alternativen Versorgungsstrukturen. Dazu zählen zum Beispiel dezentrale Energiegenossenschaften, die nicht nur Strom aus erneuerbaren Quellen produzieren, sondern zudem über demokratische Entscheidungsstrukturen verfügen.

Degrowth und die anti-Kohle-Bewegung: eine ganz besondere Liebesgeschichte von Theorie und Praxis

    Degrowth-Sommerschule auf dem Klimacamp im Rheinland

Das Verhältnis zwischen Degrowth und anti-Kohle-Bewegung wird in den sozialen Medien der Bewegungen auch als "Liebesgeschichte" beschrieben (Müller 2014). Los ging es schon 2014, als Aktivist*innen des rheinischen Braunkohle-Reviers ihre Initiative im Rahmen des Projektes Stream towards Degrowth im Vorfeld der Degrowth-Konferenz in Leipzig vorstellten. Es blieb nicht beim rein theoretischen Austausch. Am Abschlusstag der Konferenz strömten nach einer Demonstration im Zentrum Leipzigs knapp hundert Menschen zum nahegelegenen Kohlekraftwerk Lippendorf und nahmen dort an einem Aktionstraining teil. Dieses war unter dem Motto "Heute üben wir, morgen machen wir ernst" unter anderem von ausgeCo2hlt organisiert worden. Im nächsten Jahr fand die Sommerschule Degrowth konkret: Klimagerechtigkeit auf dem Klimacamp im rheinischen Braunkohlerevier statt. Hier trafen zwei Bewegungen aufeinander, die sich wunderbar ergänzen.

Die große Degrowth-Konferenz in Leipzig 2014 war ein Startschuss für eine Postwachstumsbewegung, die aufregend vielfältig und dynamisch wirkte, aber irgendwie auch diffus und ziellos, mit einem Hang zu alternativen Nischenprojekten und langen Artikeln. Die Degrowth-Sommerschule 2015 an den Ort einer konkreten politischen Auseinandersetzung, ins rheinische Braunkohlerevier, zu bringen, gab der Bewegung einen klaren Fokus und war eine Einladung, auf aktionsorientierte Methoden des gesellschaftlichen Wandels zu setzen. Ein großer Teil der rund 500 Teilnehmer*innen der Sommerschule entschied sich kurzfristig dazu, bei der Aktion Ende Gelände mitzumachen – für viele war es das erste Mal, dass sie an einer Aktion zivilen Ungehorsams teilnahmen.

Die anti-Kohle-Bewegung wiederum wird durch die inhaltliche Expertise der Degrowth-Bewegung bereichert. Die Forderung nach sofortigem Kohleausstieg und Systemwandel wirft viele Fragen auf, die wir gemeinsam bearbeiten können. Wie sieht ein sozial-ökologischer Umbau aus, der die Ängste der Arbeitnehmer*innen ernst nimmt? Welche alternativen Konzepte für Arbeit gibt es? Funktioniert das bedingungslose Grundeinkommen? Und natürlich: Wie ist ein Wirtschaften ohne Wachstum und CO2-Ausstoß möglich?

    Über die Kohle hinausdenken

Wie eingangs beschrieben, versteht sich der aktivistische Teil der anti-Kohle- Bewegung seit seinen Anfängen als systemkritisch und ist nicht erst durch die Degrowth-Bewegung auf die Idee gekommen, an unserer Wirtschaftsweise zu zweifeln. Doch Klimagerechtigkeit zu verwirklichen, ist nicht die Sache eines einzelnen Kampfes oder einer einzelnen Forderung. Denn die strategische Fokussierung auf Kohle, die einerseits Erfolg versprechend ist, birgt andererseits auch Gefahren. Beim sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft muss die ganze Bandbreite der sozialen Bewegungen zusammenwirken. Doch es ist fraglich, ob Kohlereviere zu einem bewegungsübergreifendem Kristallisationspunkt taugen. Teilweise ist es gelungen, Gruppen mit an Bord zu holen, die für eine andere Landwirtschaft kämpfen – da durch Tagebaue auch fruchtbares Ackerland zerstört wird. Was die Frage der Diversität angeht, ist allerdings festzuhalten: Die Besucher*innen des Klimacamps sind weiß. Und für Flüchtlinge hat es verständlicherweise nicht oberste Priorität, sich vor ein deutsches Kohlekraftwerk zu setzen.

Ein weiteres Problem der strategischen Reduktion ist, dass die Forderung des sofortigen Kohleausstiegs nicht unbedingt Wachstumskritik beinhaltet. Diskussionen um grünes Wachstum und grünen Kapitalismus zeigen, dass das Ziel Kohleausstieg zunächst durchaus kompatibel ist mit der "Mainstream- Energiewende", die propagiert, dass alle Probleme gelöst sind, sobald das Land mit Solarzellen und Windrädern gepflastert ist. Eine systemkritische Klimabewegung kämpft jedoch nicht nur gegen fossile Energie und die großen Stromkonzerne, sondern auch gegen die Scheinlösungen des grünen Wachstums, die nichts daran ändern, dass Unternehmen mehr und mehr produzieren müssen, um auf dem Markt überleben zu können. Sie kritisiert nicht nur, wo unsere Energie herkommt, sondern auch, wofür sie verwendet wird. Energiedemokratie wird nicht nur als kollektiver Entscheidungsprozess zu erneuerbaren Quellen verstanden, sondern auch als Forderung nach einer Plattform, auf der ausgehandelt werden kann, ob mit begrenzten Ressourcen Panzer hergestellt werden oder Krankenwagen.

Die Botschaften der anti-Kohle-Bewegung – "Leave it in the ground" und "selbst anpacken" – sind stark. Doch sie bleiben unvollständig ohne die Ergänzung durch andere Themen und Ziele. Denkbar wäre in Zukunft eine stärkere Zusammenarbeit mit dem Widerstand gegen unnütze Großprojekte oder mit Gruppen im globalen Süden, die gegen den Abbau von mineralischen Rohstoffen aktiv sind. So könnten direkte Aktionen stärker die Verbrauchs- und Produktionsebene problematisieren.

Raus aus den Hörsälen und klare Kante gegen Kapitalismus und Unterdrückung

    Die K-Frage

Wie oben beschrieben, gibt es viele Punkte, bei denen die anti-Kohle-Bewegung von der Degrowth-Perspektive lernen kann. Doch in Teilen der anti- Kohle-Bewegung wird die Degrowth-Bewegung skeptisch gesehen. Sie wird als eine Art "Kapitalismuskritik light" betrachtet, die das Veränderungspotential von Individuen und Lifestyle-Trends überschätzt und ignoriert, wie sehr unsere Spielräume von äußeren Machtstrukturen dominiert und eingeschränkt werden. Der Degrowth-Ansatz reduziere die Problempalette auf den Aspekt des Wirtschaftswachstums, während Themen wie Herrschaft, Privateigentum, Verteilungsfragen und Geschlechterverhältnisse vernachlässigt werden. Solange die Degrowth-Bewegung Kapitalismus nicht als Problem benennt, ist sie vereinnahmbar für konservative oder unpolitische Strömungen. Andererseits muss anerkannt werden, dass die Degrowth- Bewegung gerade aufgrund ihrer unverbrauchten Sprache, die nicht nach staubigen Marxbänden müffelt, neue Zielgruppen erschlossen hat – Menschen hören neu hin und stecken das Gesagte nicht so schnell in eine Schublade.

    Die Handlungsfrage

Manchmal beschleicht uns das Gefühl, dass es mehr Menschen gibt, die die Degrowth-Bewegung erforschen, als Menschen, die sie mit Aktionen vorantreiben. Deswegen würden wir unseren Degrowth-Freund*innen gerne mitgeben: Hört auf, Daten zu produzieren. Macht Bewegung. Klettert weiter mit uns auf die Braunkohle-Bagger. Blockiert Landebahnen und Autobahnerweiterungen, umzingelt nutzlose Mega-Infrastruktur! Es gilt, Orte auszumachen, die für exzessiven Ressourcenverbrauch stehen und an denen Widerstand gegen das abstrakte Wirtschaftssystem konkret und physisch werden kann. Das könnte eine wichtige Aufgabe für die Degrowth-Bewegung in den nächsten Jahren sein – und damit könnte sie die anti-Kohle-Bewegung sinnvoll ergänzen.

Der Sprung in die neue Gesellschaft – mit einer Bewegung aller Bewegungen "Die Zeit der kleinen Schritte ist vorbei", heißt es in dem kanadischen Leap Manifesto (Klein u. a. 2015), das unter anderem von Naomi Klein initiiert wurde, und das die Grundzüge einer Gesellschaft umreißt, die auf Achtsamkeit gegenüber Menschen und der Natur basiert. Um die aktuellen ökologischen und sozialen Krisen zu überwinden, müssen wir stattdessen einen großen Sprung tun. Wir brauchen einen tiefgreifenden systemischen Wandel, und den kann die anti-Kohle-Bewegung natürlich nicht alleine herbeiführen. Aufgabe der nächsten Jahre wird es sein, Schnittpunkte zu anderen politischen Kämpfen – zum Beispiel für Frieden, Bewegungsfreiheit, Ernährungssouveränität – sowie die globale Vernetzung zu suchen, um eine "Bewegung aller Bewegungen" zu bilden. Nur so kann aus der Klimabewegung tatsächlich eine diverse, internationale Klimagerechtigkeitsbewegung werden – oder wie auch immer sie sich nennen mag.

Denkbar wäre beispielsweise eine Aktionswoche neuer Dimension: Während in Polen tausende Menschen ein Dorf umzingeln, um es vor der Abbaggerung durch die Braunkohlebagger zu schützen, strömen in London Heathrow so viele Menschen auf die Landebahnen, dass der Flugverkehr zum Erliegen kommt. Zeitgleich setzen Sabotage-Aktionen von anti-Freihandels- Aktivist*innen die Grenzanlagen zwischen Mexiko und den USA außer Betrieb. Und Menschen, die ihre zerstörten Herkunftsländer verlassen mussten, schließen sich mit Aktivist*innen der Friedensbewegungen zusammen, um europäische Waffenexporte zu blockieren. Parallel zu den global koordinierten Aktionen wächst die Zahl der selbstorganisierten Netzwerke, die alternative Versorgungsstrukturen aufbauen und nach dem Prinzip der solidarischen Ökonomie wirtschaften. Nachbarschaften und Hausprojekte bilden Einkommensgemeinschaften und organisieren im Kleinen Umverteilung und Altersvorsorge.

Das ermöglicht den Menschen, weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit Sorgetätigkeiten zu verbringen oder mit Dingen, die sie erfüllen. Sie basteln aus Recyclingschrott Computer, die zwanzig Jahre lang halten, lernen endlich Dudelsack spielen und stärken soziale Netze, die Menschen integrieren können: egal, ob sie neu in Europa angekommen sind oder schon lange dort sind. @

 

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