Frankreich: Der Staatsrat (oberstes Verwaltungsgericht) setzt die Auflösung der "Soulèvements de la Terre" aus.

Ein (erster) juristischer und politischer Sieg für die Umweltbewegung

Dies ist eine Ohrfeige für Gérald Darmanin und ein Sieg für die Umweltbewegung. Am Freitag, den 11. August, setzte der Staatsrat die Auflösung der Soulèvements de la Terre, die am 21. Juni vom Innenminister angekündigt worden war, per einstweiliger Verfügung aus.

Die Anwälte der Soulèvements, Raphaël Kempf und Aïnoha Pascual, hatten am 26. Juli eine Klage beim höchsten Verwaltungsgericht in Frankreich (Conseil d’Etat )eingereicht. Dieses Gericht ist direkt zuständig, wenn es um die Legalität einer zentralstaatlichen, durch die Regierung gefällten administrativen Entscheidung geht, eine Aufhebung der Verbotsverfügung. Zugleich reichten sie eine Verwaltungsklage im Eilverfahren auf den Erlass einer "einstweiligen Verfügung" (ordonnance de référé) bei ebendiesem Gericht ein, die die Wirkung der angefochtenen Entscheidung bis zum Urteil in einem Hauptverfahren vorübergehend aussetzt. "Es ist eine Erinnerung daran, dass man nicht nach Belieben auflösen kann und dass der Schutz der Freiheiten in einem Rechtsstaat Vorrang haben muss", erklärte Aïnoha Pascual.

Die am 11. August getroffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts - die Auflösungsverfügung auszusetzen- ist in erster Linie ein Sieg für die bürgerlichen Freiheiten, wie sie von den gegen das Dekret klagenden Verbänden angeprangert worden waren. "Der Eingriff in die Versammlungsfreiheit durch die Umsetzung eines Dekrets, das die Auflösung eines Vereins oder einer faktischen Gruppierung verkündet, stellt grundsätzlich eine Ausnahmesituation dar", schrieben die Richter des Verwaltungsgerichts.

Somit werden Les Soulèvements, wie auch die 180 lokalen Unterstützungskomitees, weiterhin in der Lage sein, sich zu treffen und zu Aktionen aufzurufen. "Es ist wieder möglich, sich ohne Risiko auf die Zugehörigkeit zu den Soulèvements de la Terre zu berufen", versichert Aïnoha Pascual.

Ein weiterer Erfolg betrifft die Definition von Soulèvements (Aufständen) im Allgemeinen. Die Regierung hatte versichert, dass es sich um eine faktische Gruppierung handele, die auf der Grundlage der Bestimmungen von Artikel L. 212-1 des Gesetzes über die innere Sicherheit, besser bekannt als Separatismusgesetz, aufgelöst werden könne.

    "Ein offensichtlicher Fehler"

"Ein offensichtlicher Fehler", beteuerten die Verbände, die von den Soulevements als " einer politische Bewegung" sprechen, die ein gemeinsames Anliegen teilt. Ein Zusammenschluß aus Verbänden, Gewerkschaften und politischen Parteien ohne Führung und namentliche Mitglieder, aber großem Rückhalt in der Bevölkerung

    150.000 Sympathisant*innen

Fast 150.000 Menschen haben sich über eine Petition zu Sympathisant*Innen erklärt und mehr als dreißig Vereine hatten sich der Klage gegen die Auflösung angeschlossen: von Greenpeace über Solidaires bis hin zu Les Amis de la Terre. Für ihren Anwalt, Sébastien Mabille, "bedeutet die Entscheidung des Verwaltungsgerichts einen Stopp des Prozesses der Kriminalisierung von Umweltaktivist*Innen. Es ist auch eine Ohrfeige für das Innenministerium, denn es hat sich monatelang für dieses Thema eingesetzt und ist nun völlig gescheitert."

Insgesamt 4.000 Menschen erhoben ihrerseits Privatklagen in Unterstützung dazu, indem sie sich in parallelen Verwaltungsklagen zur Zielsetzung der Organisation bekannten und also geltend machten, selbst über ein gerichtlich geschütztes Interesse zu verfügen, das verletzt worden sei.Auch traten mehrere andere Organisationen zusätzlich in den Rechtsstreit ein: Die französische Grünenpartei EE-LV und die linksplurale Wahlplattform LFI, Umweltgruppen wie Pollinis (kämpft für den Schutz der u.a. durch Pesitizide bedrohten Bienen, Zucht- wie Wildbienen) oder die "Ingenieure ohne Grenzen" legten ihre eigene Verwaltungsklage gegen die Verbotsverfügung zu den Soulèvements de la terre vor, da durch diese repressive Maßnahme auch der gesamtgesellschaftliche Einsatz für ihre jeweils eigenen Zielsetzungen erschwert werde. Und bei der Anhörung beim Conseil d’Etat am 8. August– plädierten noch weitere Verbände auf der Seite de Soulèvements de la terre.

Als plädierende Nichtverfahrenspartei (intervenant volontaire )raten beim Gerichtstermin vor dem Conseil d’Etat unteranderem auf: Greenpeace, die Umweltorganisation Les Amis de la terre (oder englisch: Friends of the earth), die Klimabewegung Alternatiba, die Anwältinnen- und Anwältegewerkschaft SAF, die linke Richter/innen/gewerkschaft SM (Syndicat de la magistrature), die Gewerkschaftsvereinigung Union syndicale Solidaires sowie die Wohnrauminitiative Droit au Logement – DAL – sowie der GISTI, eine Rechtsberatungsinitiative im "Ausländerrecht".

Auch linke politische Parteien hatten sich der Bewegung angeschlossen, darunter Europe Écologie-Les Verts und France Insoumise.

"Die Regierung, die bereits wegen Untätigkeit im Klimabereich verurteilt wurde, wird nun von der Justiz bei ihrem Versuch, die SLT aufzulösen, abgestraft. Die Regierung sollte besser das Problem der Verknappung der Wasserressourcen angehen als die, die auf die Probleme aufmerksam machen und sich ihrerseits an den republikanischen Rahmen halten", erklärte Marine Tondelier, die Chefin der Grünen.

Für Jean-Luc Mélenchon wollten die Macronie und der "republikanische Bogen" das Gesetz brechen, indem sie einen Zusammenschluß von Bürgerinitiativen verbieten. "Eine Idee breitet sich in Frankreich aus. Die Legitimität des zivilen Ungehorsams bahnt sich ihren Weg".

    "désarmer les méga-bassines"

Der zivile Ungehorsam war während der Anhörung der Berufung am 8. August ein ausführliches Thema. Der Staat beschuldigte die Mitglieder der Aufstände, zu gewalttätigen Handlungen gegen Eigentum aufzurufen, insbesondere durch Aufrufe zur Sachbeschädigung).

"Gewalt gegen die Infrastruktur ist das Hauptanliegen der Soulments de la Terre", versicherte Pascale Léglise, Leiterin der Abteilung für öffentliche Freiheiten und Rechtsangelegenheiten des Innenministeriums, während der Anhörung.

In der Debatte ging es unter anderem um die Begriffe "désarmer les méga-bassines" ("die Riesen-Rückhaltebecken entwaffnen", es ging um das Verhindern oder Unschädlichmachen von umstrittenen Staubecken für die Intensivlandwirtschaft wie in Sainte-Soline, die das Umland und den Untergrund entwässern). Die Regierungsseite legte dies umgehend als Aufruf zur nackten Gewalt aus. Hingegen insistierte der Anwalt der Soulèvements de la terre vor dem Conseil d’Etat auf dem defensiven Charakter des Ausdrucks: "Désarmer (entwaffnen) ist die Ankündigung/das Versprechen der Herstellung eines Friedenszustands (la promesse d’un apaisement).

Pascale Léglise sagte: "Sie erlauben sich auch Gewalt gegen Personen", und erinnerte an die Anzahl der verletzten Gendarmen in Sainte Soline. Diese Theorie wurde von allen Unterstützer*Innen der Aufstände gründlich widerlegt: "Wenn es Aufrufe zur Gewalt gegeben hätte, wären die Leute nicht mit ihren Kindern im Kinderwagen gekommen", sagte der Europaabgeordnete Benoît Biteau.

Diese Argumentation überzeugte den Staatsrat: "Aus den Unterlagen, die dem Richter für einstweilige Verfügungen vorgelegt wurden, und den in der Anhörung dargelegten Elementen geht nicht hervor, dass dieses Kollektiv in irgendeiner Weise die Gewalt gegen Personen billigt." Was die "angebliche Gewalt gegen Sachen" betrifft, so war diese nach Ansicht des Verwaltungsgerichts "in begrenzter Zahl" und "symbolisch". "In Anbetracht des begrenzten Charakters, der Art und des Umfangs der aus diesen Aktionen resultierenden Schäden kann der Klagegrund nicht anerkannt werden. Denn die Aktionen der Soulèvements de la Terre können nicht als Aufruf zu Handlungen bewertet werden, die die öffentliche Ordnung ernsthaft stören. Nur dann könnte der Klagegrund die Anwendung der oben genannten Bestimmungen von Artikel 212-1° 1° des Gesetzes über die innere Sicherheit rechtfertigen."

"Er wies darauf hin, dass Les Soulments de la Terre nicht zu Gewalt gegen Personen aufrufe und folgte damit unserer Argumentation. Was die Handlungen gegen Sachen betrifft, so hat der Staatsrat darauf hingewiesen, dass nicht jede Art von Sachbeschädigung eine Auflösung rechtfertigen kann", sagte die Anwältin Aïnoha Pascual.

Sie fuhr fort: "Die Aufstände der Erde rufen zwar zu zivilem Ungehorsam auf, aber die festgestellten Beschädigungen haben symbolischen Charakter und sind in ihrer Anzahl begrenzt. Sie rechtfertigen keinen Eingriff in die Meinungsfreiheit oder die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit".

Letztendlich kam das Verwaltungsgericht zu dem Schluss, dass es "ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Dekrets" gibt, und forderte seine Aussetzung.Dieses Urteil, die "einstweilige Verfügung" ist vorläufig, eine weitere Anhörung in der Hauptsache wird voraussichtlich im Herbst stattfinden.

    Aber es bedeutet einen klaren rechtlichen, aber eben auch politischen Sieg.

Könnte sie das Auflösungsdekret vollständig aufheben? Der Anwalt Sébastien Mabille ist optimistisch: "Bis zur Anhörung in der Hauptsache müsste das Ministerium mehr Beweise vorlegen, um die Realität der Vorwürfe gegen die Soulèvements zu belegen. Das würde mich wundern, denn es hat bereits 243 Seiten weiße Notizen des Geheimdienstes vorgelegt, die lediglich ein Aggregat aus Screenshots und Tweets waren."

"Das war nicht ausreichend. Es wäre wahrscheinlich, dass die Entscheidung aufgehoben wird, denn es ist selten, dass der Staatsrat erst aussetzt und dann bestätigt", analysiert er.

Seit Beginn der Amtszeit von Emmanuel Macron ist dies das dritte Mal, dass der Staatsrat eine Auflösung aussetzt und sie dann vollständig annulliert. "Noch nie hat ein Präsident so oft aufgelöst, mit insgesamt etwa dreißig Verfahren", erinnert Sébastien Mabille. Diese Art, eine Auflösung anzukündigen, sobald eine Organisation Äußerungen macht, die missfallen könnten, ist eine Praxis, die beendet werden muss."@

Quellen:
https://reporterre.net 11.8.23
https://www.labournet.de 15.8.23
Übersetzung aaaRe

 

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