Die Zeichen stehen auf Eskalation.
Die größte Bedrohung wird im Westen leichtfertig abgetan.


Russisches Roulette
mit der nuklearen Gefahr


von Wilfried Lemberg

Der Verlauf des Ukrainekriegs deutet auf eine Eskalation des Konflikts sowohl horizontal – durch Ausweitung des militärischen Aktionsfeldes – als auch vertikal – durch Erhöhung der Stärke der eingesetzten Waffen und der Intensität ihres Einsatzes – hin. Es muss nüchtern anerkannt werden, dass diese Dynamik auf eine direkte bewaffnete Konfrontation zwischen Russland und der Nato zusteuert.

Diese nüchterne Analyse stammt vom russischen Politologen Dmitri Trenin und ist auf den 20. Juni datiert. Trenin weiß, wovon er spricht. Er gehörte zu jenen Akteuren, die den Kalten Krieg zu beenden halfen. Als Offizier der sowjetischen Truppen in der DDR nahm er an den Abrüstungsverhandlungen zwischen der UdSSR und den USA teil. In den Jahren vor der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 leitete er das Carnegie-Moscow-Center. Trenin schreibt weiter:

    "Wenn all die angewöhnte Trägheit nicht überwunden wird, wird es zu einem solchen Zusammenstoß kommen, und in diesem Fall wird der Krieg, nachdem er sich auf Westeuropa ausgeweitet hat, fast zwangsläufig zu einem nuklearen Krieg. Und nach einiger Zeit wird ein Atomkrieg in Europa höchstwahrscheinlich zu einem Schlagabtausch zwischen Russland und den USA führen."

Wie der Krieg unmittelbar in den nächsten Tagen und Wochen ausgeweitet werden könnte, lässt eine Resolution erahnen, die die US-Senatoren Lindsey Graham (Republikanische Partei) und Richard Blumenthal (Demokratische Partei) am 22. Juni in Washington präsentiert haben.

Sie schlagen vor, dass jeder Einsatz von taktischen Nuklearwaffen durch die Russische Föderation, Weißrussland "oder einen Stellvertreter Russlands" ebenso wie die Zerstörung von Nuklearanlagen, die zu einer radioaktiven Belastung des Territoriums von Nato-Mitgliedsstaaten führe, als Angriff auf das Bündnis und als Grund für die Anwendung von Artikel 5 des Nordatlantikpaktes angesehen werden sollte.

    "Diese Resolution soll eine Botschaft an Wladimir Putin und sein Militär senden: Sie werden vernichtet, wenn sie taktische Atomwaffen einsetzen oder ein Atomkraftwerk in einer Weise zerstören, die die umliegenden Nato-Staaten bedroht", sagte Blumenthal.

"Die Bedrohung durch den Einsatz eines atomaren Gefechtskopfes durch Russland ist real. Und die beste Art der Abschreckung ist, den Russen klarzumachen, was passiert, wenn sie das tun (….). Ihr werdet Euch dann im Krieg mit Nato befinden", bekräftigte Graham.

In der Ukraine wird das Schreckensszenario einer nuklearen Katastrophe derzeit von Präsident Wolodymyr Selenskyj an die Wand gemalt. In den Regionen werden Strahlenschutzzentren eingerichtet, um die Bevölkerung auf eine mögliche nukleare Katastrophe vorzubereiten. Spezialfahrzeuge zur Bekämpfung der radioaktiven Kontamination werden gesichtet und Windmessgeräte in der Süd- und Zentralukraine eingesetzt, um die Flugbahn etwaiger radioaktiver Wolke zu berechnen.

    Wer will das Atomkraftwerk Saporischschja sprengen?

Gleichzeitig beschuldigte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, russische Militärs, Pläne zur Sprengung des Atomkraftwerks Saporischschja zu verfolgen. Diese Planungen seien sogar schon abgeschlossen, heißt es in der Frankfurter Rundschau: "Der britischen Wochenzeitung New Statesman hatte er erklärt, dass vier Kraftwerksblöcke des AKW mit Sprengstoff vermint seien." "Russland soll Kühlbecken an Atomkraftwerk Saporischschja vermint haben", schreibt der Spiegel.

Solche Headlines entsprechen weitgehend der Haltung Kiews. Auch Selenskyj warnte in der vergangenen Woche mehrfach vor russischem "Atomterror" und schlug weltweit Alarm. "Sie haben alles dafür vorbereitet", sagte er und betonte, dass ein solcher Angriff auf das größte Atomkraftwerk Europas Folgen weit über die Ukraine hinaus haben könnte. Moskau bezichtigte Kiew daraufhin der Lüge.

Russland baut überall auf der Welt Atomkraftwerke. Dass es das größte Atomkraftwerk Europas mit derzeit 3.500 Beschäftigten mutwillig in die Luft sprengen und damit eine ganze fruchtbare und dicht besiedelte Region auf Jahrtausende verseuchen will, ist eine hehre These.

Zumal internationale Beobachter in dem von Russland kontrollierten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja bislang keine Anzeichen für Verminung sehen. Die Überprüfung würde aber fortgesetzt, heißt es von der zuständigen Internationalen Atomenergiebehörde.

Aber die These einer geplanten Sprengung des Atomkraftwerks ist in der Debatte. Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms und die Sabotage von Nord Stream zeigen, dass man solche Signale ernst nehmen muss. Am Ende wird es den zehntausenden verstrahlten Opfern einer Havarie egal sein, wer verantwortlich ist.

Unbeeindruckt von der aufgeregten Debatte um das Atomkraftwerk schrieb der kremlnahe Politologe Sergej Karaganow Mitte Juni in einer russischen Zeitschrift für internationale Analyse einen Artikel mit dem Titel "Harte, aber notwendige Entscheidung". Er rechtfertigte darin einen russischen Präventivschlag mit taktischen Atomwaffen in Europa.

Der Vorschlag war so radikal, dass er in Russland viele kritische Reaktionen hervorrief. In der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti wiederholte Karaganow seine These, sogar noch radikaler formuliert: "Es gibt keine Wahl mehr: Russland muss einen Atomschlag gegen Europa führen." In seinem Artikel schrieb er Sätze wie:

"Ich glaube, dass unser Präsident irgendwann seine Bereitschaft zum Einsatz von Atomwaffen zeigen muss. Die Frage ist nur, wer das Ziel eines solchen Angriffs sein könnte und sollte." Das sei allemal besser als das endlose Sterben russischer Soldaten in einem Zermürbungskrieg in der Ukraine. Dieser sei Russland "aufgezwungen" worden. Nun kann man natürlich – wie der Chef des grünennahen Thinktanks Zentrum Liberale Moderne, Ralf Fücks –, den Vorstoß Karaganows als Akt psychologischer Kriegsführung abtun und zu noch mehr Abschreckung und Härte gegenüber Russland aufrufen. "Wer die russische Führung von einem nuklearen Amoklauf abhalten will, darf keinen Zweifel an der Antwort des Westens lassen", schrieb Fücks auf Twitter.

    Für das ZDF muss Putin
    Atombomben abwerfen

Doch die nukleare Option der Russen wird im Westen offenbar nicht ernst genommen. So hieß es etwa im ZDF noch in Oktober: "Seit Kriegsbeginn hat Russlands Präsident Wladimir Putin immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Passiert ist bislang nichts". Folgt man dieser Argumentation, müsste Putin, um das ZDF zu beeindrucken, irgendwo ein paar Atombomben abwerfen.

Die Gelassenheit der deutschen Medien gegenüber der Atomkriegsgefahr kommt nicht von ungefähr. Ganz in dieser Logik – die Russen bluffen nur! – agiert seit Kriegsbeginn die Biden-Regierung, wie die Washington Post Anfang Juni unter Berufung auf Regierungsquellen berichtete. Der Artikel war übertitelt mit "Biden zeigt wachsende Lust, Putins rote Linien zu überschreiten".

Die "Lust" nehme zu, weil der russische Präsident Wladimir Putin seinen Drohungen keine Taten folgen lasse, so die Zeitung. Diese Einschätzung habe Außenminister Antony Blinken dazu veranlasst, auf eine weitere und stärkere Unterstützung der Ukraine zu drängen.

Russlands Zurückhaltung bei Vergeltungsmaßnahmen habe das Risikokalkül von Außenminister Antony Blinken beeinflusst, hieß es aus Kreisen des Außenministeriums. Als enger Vertrauter von US-Präsident Joe Biden habe er die Regierung und die Verbündeten der USA dazu ermutigt, die Ukraine stärker zu unterstützen.

Wie nervös die Biden-Regierung aber tatsächlich werden kann, wenn die Gefahr eines russischen Atomwaffeneinsatzes nach der jetzt geltenden Doktrin auch nur theoretisch steigen sollte, zeigte die eintägige Wagner-Meuterei, angeführt vom ehemaligen "Koch Putins", Jewgeni Prigoschin.

Mit Nachdruck betonte man in Washington, mit dem Putsch nichts zu tun zu haben. Denn bei einem drohenden Machtwechsel in Moskau könnte dann der Tatbestand der "Gefährdung der staatlichen Existenz Russlands" greifen, was Angriffe auf mutmaßliche Urheber des Putschversuchs – auch im Ausland – einschließen könnte.

Auch die Möglichkeit, dass die Putschisten nach einem Machtwechsel nebenbei die Kontrolle über den roten Knopf erhalten könnten, wurde in westlichen Zeitungen eifrig diskutiert. Ein berechenbarer Putin, der seit 23 Jahren in Russland an der Macht ist, erscheint aus dieser Perspektive fast wie eine rettende Option.

Das verhindert aber nicht Schlagzeilen wie: "Ukrainische Atomwaffen - warum eigentlich nicht?", hier in der Welt vom 21. Juni. Wir sehen, dass allein in den letzten Wochen weitere rhetorische Tabus in Bezug auf den Einsatz von Atomwaffen gebrochen wurden.

Wie konnte es so weit kommen? Die russische Führung ist ja nicht vom Mond gefallen: Putin, Medwedew und Lawrow gab es schon vor fünf, zehn und fünfzehn Jahren. Sie wussten, wie man mit dem Westen friedlich koexistiert, bauten gemeinsame Energieinfrastrukturen auf, luden Unternehmer ein und investierten selbst.

Noch vor wenigen Jahren gab es einen echten Kulturaustausch, vor vier Jahren haben wir hier in Deutschland das russische Kulturjahr gefeiert, 2015 war die deutsche Kultur in Russland zu Gast. Beide Ereignisse wurden vom selben Außenministerium unter Sergej Lawrow begleitet.

Das waren noch Zeiten, als Sigmar Gabriel – wo ist er jetzt? – als gerade scheidender Außenminister sagen konnte, Deutschland dürfe sich "nicht in einen Krieg gegen Russland hineinziehen lassen". Erinnert sich noch jemand an den November 2018, als ein Durchbruch ukrainischer Kriegsschiffe durch die Straße von Kertsch von Russland mit militärischer Gewalt gestoppt wurde?

Damals lief auch der Minsker Friedensprozess, bei dem Deutschland und Russland mit am Tisch saßen. Gabriel setzte sich damals für einen Blauhelmeinsatz in der Ostukraine ein. "Endlich einen Waffenstillstand erreichen, den Rückzug der schweren Waffen auf beiden Seiten durchsetzen und dann auch einen ersten Schritt zum Abbau der Sanktionen machen: Das ist der einzige Weg aus diesem völlig verfahrenen Konflikt", sagte er.

Trotz dieser mäßigenden Stimmen konnte das Abgleiten in einen ausgewachsenen Krieg nicht aufgehalten werden. Auch die gegenwärtigen Regierungen in Washington, Berlin, Rom und Paris kennen nur die Konfrontation und den Weg der Eskalation.

Statt Kompromisse zu suchen, wird russisches Roulette gespielt, indem gegenüber Russland "rote Linien" verschoben werden, während im Land endlos über ein Heizungsgesetz diskutiert wird. Ob es in dem Konflikt, in die wir jetzt alle schlafwandelnd hineingleiten, noch eine Rolle spielen wird, ob Energie umweltfreundlich ist oder nicht, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Im schlimmsten Fall wird es keine schützenswerte Umwelt mehr geben.

Nötig wäre nun ein partei- und länderübergreifender Krisenstab zur Beseitigung der nuklearen Gefahr unter Einbeziehung der Uno, Russlands und der Ukraine. Niemand eine nukleare Eskalation wollen, weder in Russland noch in Europa. Allein auf dieser Basis kann und muss ein Kompromiss gefunden werden.

aus: telepolis am 6. Juli 2023

 

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