Europas größtes Atomkraftwerk

Mitten im Kriegsgeschehen:

von Ute Rippel-Lau
Vorstandsmitglied der IPPNW

Schon in Friedenszeiten ist die Atomenergie eine Hochrisikotechnologie. Gegenwärtig erleben wir, wie sich die Gefahren dieser Technologie in der Ukraine durch den Krieg noch einmal dramatisch erhöhen. Zum ersten Mal liegen atomtechnische Anlagen mitten in einem Kriegsgebiet. Saporischschja, das größte Atomkraftwerk Europas mit seinen sechs Reaktorblöcken liegt direkt an der Frontlinie zwischen Ukrainischem und russisch besetztem Gebiet. Immer wieder kommt es zum Beschuss des Kraftwerksgeländes, wobei sich beide Kriegsparteien regelmäßig gegenseitig dafür beschuldigen.

Sowohl der UN-Generalsekretär Guterres, als auch Raffael Grossi von der IAEO sowie die IPPNW fordern bis heute erfolglos die Einrichtung einer entmilitarisierten Sicherheitszone um das Atomkraftwerk unter UN-Aufsicht. Im Völkerrecht gibt es bisher keine klaren Regeln über Abstand-und Sicherheitszonen. Bei den Verhandlungen zu den Genfer Konventionen hatte man sich nicht darauf einigen können, Atomanlagen grundsätzlich aus den Kriegshandlungen herauszunehmen, da diese sowohl militärischen als auch zivilen Zwecken dienten. Diese Lücke im Völkerrecht muss geschlossen werden.

Neben der stillgelegten Atomruine von Tschernobyl gibt es In der Ukraine an vier Standorten Atomkraftwerke mit insgesamt 15 Reaktorblöcken, die normalerweise etwas mehr als 50% des Strombedarfs des Landes decken. Im März 2022 besetzten russische Truppen Saporischschja, bezogen dort Stellung und verschanzten sich auf dem Gelände. Schon im letzten Jahr bezeichnete die IAEO die Lage am AKW als "unhaltbar" und ein "Spiel mit dem Feuer". Erst nach wochenlangen zähen Verhandlungen mit beiden Kriegsparteien gelang es der IAEO im September 2022, ein Inspektorenteam nach Saporischschja zu schicken. Doch auch die jetzt dauerhafte Präsenz von zwei Inspektoren vor Ort konnte den Beschuss bis heute nicht beenden.

Atomkraftwerke mit ihren angegliederten Zwischenlagern sind hochkomplexe Industrieanlagen, die an vielen Stellen störanfällig und verletzlich sind.Das Bundesamt für Sicherheit in der nuklearen Entsorgung schreibt:

    "Die Systeme eines Kernkraftwerks sind nicht gegen kriegerische Handlungen wie gezielten Beschuss ausgelegt. Das gilt auch für die Notstromversorgung. Aufgrund der Abhängigkeit von Treibstoffreserven und generell intakter Infrastruktur am Kraftwerksstandort ist sie im Kriegsfall entsprechend vulnerabel."
  • Die direkte Zerstörung des Reaktorgebäudes durch Bombardement oder Beschuss, absichtlich oder versehentlich, führt in der Regel zu einer Kernschmelze. Die IAEO stellte bereits 2001 fest, dass Reaktoren einer Kollision mit einem großen Passagier-Flugzeug nicht standhalten können. Das gilt umso mehr für moderne Kriegswaffen.
     
  • Ähnliche Folgen kann die Zerstörung der für den Reaktor wichtigen Sicherheitssysteme haben. Die Kontrollräume für die Reaktorsicherheit, deren Versorgung mit Elektrizität sowie die Versorgungsleitungen befinden sich häufig ungeschützt außerhalb des Reaktorgebäudes.
     
  • Eine Unterbrechung der Stromversorgung im Primärkreislauf kann im ungünstigsten Fall in wenigen Stunden zu einer Kernschmelze führen. Wird ein AKW vom Stromnetz abgetrennt, so wird es, wenn möglich, in einen sog. "Inselbetrieb" heruntergefahren, d. h. es produziert dann nur noch Strom für die notwendige eigene Kühlung. Hierfür sind große elektrisch betriebene Pumpen erforderlich.
     
  • Sollten auch diese ausfallen, müssten Diesel-Generatoren einspringen, die aber nicht für einen Langzeitbetrieb gedacht sind. Der Betrieb der Notstromaggregate benötigt Diesel in einer Größenordnung von einem Tanklastzug pro Tag. Das setzt eine intakte Infrastruktur voraus, die im Krieg nicht gesichert ist
     .
  • Die regelmäßige Wartung, Sicherheitskontrollen und der freie Zugang zum AKW ist unter Kriegsbedingungen nicht mehr gewährleistet.
     
  • Die Abklingbecken, in denen die Brennstäbe zum Abklingen mehrere Jahre unter ständiger Kühlung lagern müssen, stellen neben dem Reaktor selbst eine große Gefahr dar. In Saporischschja hat sich hier nach mehr als 30 Betriebsjahren eine enorme Menge an radioaktivem Material angesammelt, das bei Ausfall der Kühlung frei werden und sich über große Teile Europas ausbreiten könnte.
     
  • Menschliche Fehler des Bedienungspersonals werden begünstigt durch die extreme Anspannung der Beschäftigten unter der Besatzung-und Kriegssituation.
     
  • Ein funktionierender Katastrophenschutz im Falle einer Nuklearkatastrophe ist unter Kriegsbedingungen nur schwer durchführbar.
     
  • Ein ausreichendes Kühlwasserreservoir ist für einen sicheren Betrieb unverzichtbar, sowohl für den Sekundärkreislauf des AKW, die Kühlung der Abklingbecken, als auch für die evtl. nötigen Notstromaggregate.

Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine befindet sich das Atomkraftwerk Saporischschja dauerhaft in einem prekären Zustand: Es hat Beschädigungen von Gebäuden durch Beschuss gegeben, Ausbruch von Feuer und zeitweilige Abtrennung vom Stromnetz.Im Moment sind alle sechs Reaktorblöcke abgeschaltet, Block 5 befindet sich in sog. "heißer Reserve".

Seit dem Morgen des 06.06.23 spitzt sich die Lage durch den Bruch des Staudammes von Kachovka südlich von Saporischschja noch einmal dramatisch zu. Der Pegel des für die Kühlung des notwendigen Wasserreservoirs sinkt ständig. Unterhalb eines Pegels von 12,7 m könne kein Wasser mehr aus dem Stausee auf das Gelände des Kraftwerks gepumpt werden. Man pumpe daher jetzt kontinuierlich Wasser in Auffangbecken auf dem Gelände, so Rafael Grossi, IAEO

Das alles zeigt sehr deutlich, wie alternativlos ein sofortiger Waffenstillstand und eine schnelle Beendigung des Krieges ist.@

 

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